piwik no script img

Die freiwillige Müllabfuhr

Bei die Kampagne „Der Müll kommt mit“ im Bezirk Steglitz-Zehlendorf werden Abfallbehälter abgebaut, damit die Bürger ihren Dreck mit nach Hause nehmen. Weil das am Schlachtensee kaum jemand macht, sammelt Michael Riedel den Müll auf

„Müllsammeln istfür mich eine staatsbürgerliche Pflicht.“

von SEBASTIAN HEINZEL

Eine Duftwolke aus Sonnencreme, Marihuana und Fußschweiß zieht über die Liegewiese. Einige Frauen und Männer zwängen sich in ihre Badesachen, zwei kahl geschorene Jugendliche öffnen die ersten Bierflaschen einer Sechserpackung, ein Geschäftsmann, entkleidet bis auf die Unterhose, genießt die Vorabendsonne. Feierabendstimmung am Schlachtensee.

Wenn andere ihren Arbeitstag mit einem Sprung ins kühle Wasser beenden, legt ein Mann so richtig los. Er wuselt um die Papierkörbe zwischen Ufer und S-Bahn-Station und kommt dabei ordentlich ins Schwitzen. Bei genauerem Hinsehen lässt sich ein System erkennen. Er sammelt herumliegenden Müll ein, durchforstet die Hinterlassenschaften von Badegästen und trennt Plastikflaschen, Chipstüten, Tetrapaks, Zeitungen und Essensreste: in Altpapierstapel, gelbe Säcke und Restmüll. Ein Obdachloser auf der Suche nach Pfandflaschen?

Weit gefehlt. Der drahtige Mann ist studierter Jurist, hat auf Lehramt an der Freien Universität studiert, einige Zeit Privatunterricht gegeben und unterrichtet seit vielen Jahren an der Volkshochschule in Marzahn-Hellersdorf Latein und Mathematik. Jetzt in der Ferienzeit betätigt er sich als freiwillige Müllabfuhr. Der 59-Jährige möchte erst seinen Namen nicht nennen und auch nicht fotografiert werden. Aber weil es ihm „um die Sache“ geht, ändert er seine Haltung und stellt sich als Michael Riedel vor. „Morgens müsste man das hier fotografieren“, schimpft er und zeigt auf die Liegewiese. Wenn andere noch im Bett liegen, schwingt er sich um sechs Uhr zu seiner ersten Schicht aufs Fahrrad und räumt am Schlachtensee auf.

Seit Mitte Mai versucht sich das Bezirksamt Steglitz-Zehlendorf zusammen mit mehreren Umweltgruppen an einem Pilotprojekt. „Der Müll kommt mit“ heißt das Motto der Kampagne, die eine Reduzierung der Abfallbehälter in den öffentlichen Grün- und Erholungsanlagen des Bezirks zum Ziel hat. Wie in anderen Städten sollen auch in Berlin die Menschen ihren Müll mit nach Hause nehmen. Deshalb wurden viele Müllbehälter in der Stadt abgebaut.

Am Schlachtensee erinnern graffitiverschmierte Metallskelette daran, dass es vor knapp drei Monaten noch mehr Mülleimer gab. Der Abbau soll Kosten sparen und dafür sorgen, dass der anfallende Mischmüll, der vom zuständigen Naturschutz- und Grünflächenamt (NGA) aus Geldgründen nicht getrennt werden kann, von den Bürgern selbst sortiert wird.

„Aber das macht ja keiner“, sagt Dietmar Nowak, der seit fünfzehn Jahren sein Feierabendbier auf den „Terrassen am Schlachtensee“ trinkt und dabei die Entwicklung seit der Entfernung der Papierkörbe beobachtet. „Das ist das Ergebnis“, sagt er und zeigt auf den Müllberg, den Riedel zusammengetragen hat. Seit Tagen schon beobachte er Michael Riedel beim Saubermachen: „Der macht das so elegant“, sagt Nowak kopfschüttelnd und kneift die Augen zusammen. „Gestern hat er hier bis 10 Uhr abends geackert.“ Nowak rätselt: „Aus welchem Antrieb macht er das eigentlich?“

Michael Riedels stiller Aufräumdienst sorgt auch bei anderen für Aufmerksamkeit. Viele Passanten bleiben stehen und schauen dem emsigen Müllmann zu. Autofahrer, die am Zebrastreifen warten, schieben ihre Sonnenbrillen hoch und ihre Blicke scheinen zu fragen: Wie kann man nur an einem Sommerabend im Müll wühlen? „Angenehm ist es nicht“, sagt Riedel bescheiden. „Ich sitze sonst auch lieber zu Hause und lese. Aber es ist notwendig.“

Dafür opfert der gebürtige Lübecker auch gern seine Sommerferien. Und er führt streng Buch über seine Säuberungsaktionen – die genaue Anzahl der Flaschen, der gelben Säcke, der Litermengen Papier. Das sei eine „kleine Marotte“, gibt er zu. Sein bisheriger Rekord liegt bei über 300 Flaschen an einem Abend.

Die sortiert er nach Pfandgut und Einwegflaschen und transportiert sie mit einem alten Damenfahrrad ab. An diesem heißen Abend Ende Juli unterstützt ihn eine Frau, die sich wie er an dem herumliegenden Müll stört. Riedel kennt sie nicht. Auf Nachfrage stellt sich heraus, dass sie Lehrerin ist. Zufall? Den allein stehenden Riedel interessiert das nicht besonders. Er macht unbeirrt weiter und zählt von eins bis dreizehn, damit er weiß, wie viele Flaschen die unbekannte Helferin in ihrem Fahradkorb bis zum nächsten Flaschencontainer mitnimmt.

Besonders im Pfandsystem sieht der Abfallaktivist dringenden Reformbedarf. Denn Einwegflaschen und niedriger Pfand würden die Hemmschwelle der Müllsünder senken, ist er überzeugt. Deshalb fordert er ein Pfand von mindestens 50 Cent bis zu einem Euro pro Flasche. „Das muss weh tun.“

Michael Riedel: „Die BSR hat die Verpflichtung, aufzuräumen.“

Auf die Situation am Schlachtensee ist er aufmerksam geworden, als er mit der S-Bahn vorbeifuhr. Normalerweise sammelt er herumliegenden Müll in der Gegend seines Wohnhauses in Zehlendorf und um den gleichnamigen S-Bahnhof. Dass er den Dreck anderer wegräumt, stört ihn nicht. Er bezeichnet sein Engagement als „staatsbürgerliche Pflicht“. Deshalb ärgert er sich, wenn die Müllhaufen und gelben Säcke, die er am S-Bahnhof Zehlendorf oder am Schlachtensee am Straßenrand aufreiht, nicht abgeholt werden. „Als Monopolbetrieb hat die BSR die Verpflichtung, aufzuräumen“, schimpft er. Schon allein wegen der Rattengefahr.

Der Müll, den er täglich sortiert, sei zu 80 Prozent wiederverwertbar, erzählt Riedel. Trotzdem finde keine Mülltrennung statt. „Das nehme ich denen übel.“ Riedel redet schnell und wenn er sich aufregt, gestikuliert er mit den Armen, und ein Gestank nach Müll macht sich breit. Das liegt an den schmutzigen Arbeitshandschuhen, die er bei seiner Arbeit trägt.

Seitdem die Papierkörbe abmontiert wurden, gibt es nicht mehr Müll auf der Liegewiese am Schlachtensee. Doch statt in den Abfallbehältern des Natur- und Grünflächenamtes landet alles auf der Straße, neben den orangefarbenen Papierkörben der BSR. „Die Reduzierung kann dazu führen, dass das Angebot im öffentlichen Raum überstrapaziert wird“, sagt BSR- Pressesprecher Bernd Müller. Er spricht von den Folgen der anhaltenden Hitze und sieht keinen Sinn darin, die Papierkörbe mehr als einmal täglich zu leeren. Das sei keine mangelnde Flexibilität, sondern habe Kostengründe. Schließlich gebe es insgesamt 20.356 Papierkörbe in der Stadt. „Leider wird das Angebot oft vom Bürger nicht wahrgenommen“, klagt der Pressesprecher. Auch der Zehlendorfer Baustadtrat Uwe Stäglin (SPD) zeigt sich enttäuscht. Er möchte noch kein Resümee der Kampagne im Bezirk ziehen. Aber: „Im Moment steht fest, dass sich nicht viele Leute beteiligen.“ Von Michael Riedels Engagement weiß der Stadtrat nichts.

Nachdem der Volkshochschullehrer die Liegewiese gesäubert hat, genehmigt er sich einen Meerrettichquark. Den leeren Becher nimmt er mit nach Hause, um ihn auszuwaschen. „Nur was waschmaschinenrein ist, landet bei mir im gelben Sack“, sagt er. Bevor er Feierabend macht, will er noch schnell zur Krummen Lanke fahren. Auch dort wurden Müllbehälter abgebaut. Riedel spricht von „einer Notlage“ und rechnet „mit dem Schlimmsten“.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen