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Gysi als heiliger Sünder

Berlins Exwirtschaftssenator erklärt, warum er zurücktrat: Für ihn gelten andere Maßstäbe als für Normalo-Politiker. Amtsmüdigkeit: keine. PDS sucht Nachfolger

BERLIN taz ■ Nur zwei Tage nach seinem Rücktritt ist Gregor Gysi wieder da: Für seinen Auftritt hat er sich von der Bundespressekonferenz einladen lassen, um ebenjenen Rücktritt vom Amt des Berliner Wirtschafts- und Frauensenators zu begründen. Er nimmt Bezug auf die Zeitungs-Kommentare, die seinem überraschenden Schritt folgten. Gysi fühlt sich, wie so oft in seiner Karriere, missverstanden.

Nicht nur Journalisten, auch PDS-Politiker hatten in den vergangen Tagen kritisiert, Gysi habe mit seinem Rücktritt aus nichtigem Anlass einen ob seiner Rigorosität uneinhaltbaren moralischen Anspruch an Politiker erhoben. Dem widerspricht Gysi: „Ich will keine Maßstäbe für andere aufmachen.“ Ein anderer hätte nach der lässlichen Miles-&-More-Sünde weitermachen können, er jedoch nicht. „In der Politik gibt es Regeln, die hängen mit dem Image zusammen.“ Gysi gebraucht den Begriff „Image“, mit dem er scheinbar den Anspruch des Publikums an einen Politiker meint.

Seine Argumentation wird am deutlichsten, als er ein Beispiel zur Illustration anführt: „Für Willy Brandt und Franz Josef Strauß haben auch völlig unterschiedliche Maßstäbe gegolten.“ Gysi gibt den reuigen Sünder, aber in dieser Pose der Demut erhebt er sich implizit: Ich bin eine Besonderheit, die über der normalen politischen Klasse steht. Ein Hinz-und-Kunz-Politiker hätte weitermachen können, ich nicht.

Gysi verneint auch die weit verbreitete Meinung, er habe nur einen Anlass gesucht, um die rot-rote Regierung in Berlin zu verlassen. Diese Interpretation nennt er „absurd“. Er sei ein ehrgeiziger Mensch, habe sich Ziele für die ganze Legislaturperiode gesteckt, außerdem habe ihm die Arbeit Spaß gemacht. Nichts dran sei an Gerüchten, sein Rückzug stehe in Zusammenhang mit den Anfang der Woche von der Birthler-Behörde an den Regierenden Bürgermeister weitergeleiteten Ergebnissen in Sachen Stasi-Verbindungen.

Zu seinem Abgang inszeniert Gysi, auf dessen Glatze sich die Lampenlichter spiegeln, noch einmal gekonnt selbst. Charme. Ironie. Echter Witz. Selbst seine Attacken klingen gewinnend. Der Berliner SPD-Vorsitzende Peter Strieder hat ihm „Flucht aus der Verantwortung“ vorgeworfen? „Herr Strieder kann schon mit einem reden. Da kann man fast nostalgisch werden“. Heißt: Strieder erinnert mich an SED-Betonköpfe. Der PDS-Ehrenvorsitzende Hans Modrow (74) hat Gysi einen „Mann von gestern“ genannt. Gysi pariert: „Ich freue mich immer, wenn Leute der Zukunft auf die Vergangenheit hinweisen.“

Die Journalisten wollen Gysi einfach nicht glauben, dass sein persönlicher Ehrenkodex einen Rückzug unausweichlich gemacht habe. Die ganze Flugmeilen-Geschichte sei doch eine Kampagne der Bildzeitung, meint einer. Gysi: „Sicher. Aber das ändert nichts an meinem persönlichen Fehler.“ Um die rot-rote Koalition sorgt sich Gysi nicht, obwohl das Renommierprojekt der PDS jetzt wie ein Unternehmen dasteht, aus dem man flieht. „Es gibt einen politischen Grund für diese Koalition, und der bleibt.“

Einen Nachfolger für das Amt des Wirtschaftssenators haben die Genossen aber noch nicht gefunden. Die PDS hat eine Kommission mit der Suche beauftragt. Gysi sucht nicht mit. Er wird bald wieder als Anwalt arbeiten. ROBIN ALEXANDER

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