: Denn sie dürfen nicht, was sie tun
aus Ocean City MICHAEL STRECK
Erin lehnt an der weißen Bank auf der Strandpromenade. Die Brise vom Atlantik zwirbelt durch ihr Sommerkleid. Ihre Haut ist sonnenbraun. Alles leuchtet, ihre weißen Zähne, die blauen Augen und ihr blondes Haar. Eine junge Frau wie aus einem Katalog für Sommerkleider. Sie sieht gut aus, dafür, dass sie letzte Nacht volltrunken war. Ihre Freundin neben ihr ist dagegen etwas abwesend. Erin genießt die Blicke der vorbeischlendernden Jungen. Überall Haut, bunte Bikinis und niemand ohne Tattoo. Es ist Samstagnachmittag, und morgen früh wird alles wieder vorbei sein. 9 Stunden hat sie mit Freunden im Auto gesessen, um 24 Stunden in „OC“ zu verbringen. Zwei Buchstaben, die eine magnetische Anziehungskraft auf amerikanische Teenager an der Ostküste ausüben.
Ende Juni beginnen die Sommerferien. Dann fallen sie in Ocean City ein. Sie kommen aus New Jersey und Pennsylvania. Aus Baltimore, Washington, D. C. und den endlosen Vorstädten. Manche bleiben nur ein Wochenende, andere mehrere Tage. Manche fallen betrunken vom Balkon. Andere setzen ihr Auto im Vollrausch gegen einen Baum. Einige kippen einfach tot um, wie ein Junge, der sich vor einigen Wochen ins Koma soff und nicht mehr aufwachte. Wer überlebt, kommt wieder. Vielleicht schon nächsten Samstag, garantiert nächstes Jahr.
„Ich komme hierher, um die Kontrolle zu verlieren“, sagt Erin und lacht. Um nichts anderes geht es, und nirgendwo geht das besser als hier. Am schnellsten mit Whiskey ohne Eis. Mit 21 Jahren muss sie nicht mehr ältere Freunde bitten, ihr am Liquor Store eine Flasche Jack Daniel’s zu kaufen. Für den jahrelangen Freundschaftsdienst revangiert sie sich nun, indem sie Jüngeren die Partyzutaten besorgt. Und von denen gibt es hier genug, denn in den USA dürfen Heranwachsende ein Auto lenken, lange bevor sie sich, fünf Jahre später, legal mit Alkohol berauschen können. Die Zwischenphase lässt sich am besten in der anonymen Masse überstehen. Weit weg von Eltern, Lehrern und neugierigen Nachbarn in den Vorstadtsiedlungen. An einem Ort, wo man mit sich und anderen experimentieren kann. Sagt Erin, faltet ihren Rock zurecht und begibt sich zurück auf den hölzernen Laufsteg.
Hier, auf dem drei Kilometer langen „Ocean Walk“, der Amüsierpiste mit Frittenbuden, Pizzaständen, Spielhöllen, Achterbahn und Glücksrädern, drängen sich junge Eltern mit Kinderwagen, einige Paare über 40, aber vor allem Kids. Das Durchschnittsalter liegt zwischen 16 und 21 Jahren. Baden ist nicht angesagt, obwohl ein breiter Strand und lauwarmes Wasser locken. Das ist uncool und stiehlt nur Zeit fürs Wesentliche: flirten und Partygelegenheiten für den Abend auskundschaften. Da Trinken und das offene Tragen von Alkohol jeglicher Art in der Öffentlichkeit verboten sind, geschehen die Exzesse im Verborgenen. In den Motel- und Hotelzimmern hinter dem Strand.
„OC“ ist ein Abenteuerspielplatz. Der Ort mit 6.000 Einwohnern beherbergt in der Sommersaison monatlich so viele Menschen wie in Dortmund wohnen. Im Jahr sind es rund 8 Millionen Besucher, und um diese aufzunehmen, wurde eine nur 2 Kilometer breite, aber 20 Kilometer lange Halbinsel restlos mit Bettenburgen verbaut. Überall sieht man Horden junger Leute Hotels belegen. Auch das King Charles Hotel ist in der Hand von dutzenden Halbwüchsigen aus der Nähe von Baltimore.
„OC“ muss für George Bush ein Sodom und Gomorrha sein. Denn die Szenen, die sich hier abspielen, stehen in scharfem Gegensatz zur Enthaltsamkeitspolitik des Weißen Hauses. Seit der ehemals trinkfreudige und nun dauerhaft nüchterne Bush junior das Land regiert, predigt er der Jugend den Verzicht. Besonders abgesehen hat er es auf Sex und Alkohol. Doch die von der Regierung unterstützte zero tolerance von Kommunen gegenüber jugendlichem Alkoholgenuss und die amtliche Politik des No sex before marriage, also kein Sex vor der Ehe, läuft ins Leere. Vielleicht fördert sie sogar den Exzess. Je strenger verboten die Früchte, desto süßer ihr Geschmack.
Aus den Zimmern des King Charles dringen laute Stimmen. Es wird gekichert, gelacht, gekreischt. Flaschen klirren, Türen schlagen. Musik. Fernsehgeräusche. Manchmal Ruhe. Dann geht es erneut los. Eine Zimmertür öffnet sich und gibt den Blick frei auf das Innere. Betäubte Leiber auf zerwühlten Betten, leere Wodka- und Bierflaschen auf Nachttischen und Fußboden. Es riecht nach Pizza, Bier und Parfüm. Mädchen wechseln ins Nachbarzimmer.
Megan Howard ist an diesem Samstagabend nur zum Feiern hier. Übernachten kann sie bei ihrem Bruder, der seit einiger Zeit einen Job in Ocean City hat. Der besorgt auch Bier und Wein, denn sie ist erst 17. Megan kommt aus Suburbia, von dort, wo niemand zu Fuß geht, es keine Flaniermeilen gibt, man sich nicht einfach an die Straße setzen kann und ihr niemand eine Flasche Bier verkauft. Sie ist bereits das fünfte Mal in Ocean City. Ihr Körper ist sehr weiblich, ihr Gesicht noch mädchenhaft. Die langen dunkelblonden Haare sind etwas zerzaust. Sie würde lieber Gras rauchen, aber wer mit einem Joint erwischt wird, kann mehrere Jahre ins Gefängnis kommen. Sie erzählt, dass sie mit zwölf angefangen hat zu trinken. „Alkohol bringt die Leute zusammen. Alle sind entspannt.“
Studien haben ergeben, dass ein Drittel aller Schüler zwischen 15 und 19 Jahren regelmäßig am binge drinking teilnimmt, das übersetzt „Saufgelage“ heißt. Wie Megan sehen Schüler Bier, Wein und sonstiges Hochprozentiges nicht als Droge an, da diese nicht generell verboten sind. Die Studien besagen auch, dass drei Viertel aller Mädchen bei den berüchtigten Partys am Strand täglich betrunken sind. Zwei Drittel berichten sogar, dass sie an einem Abend acht oder mehr Bier getrunken hätten. Um auf dieses Soll zu kommen, wird unter den Kids ein beliebtes Spiel veranstaltet: beer pong bay route. Dabei geht es darum, erklärt Megan, dass zwei Teams wie beim Pingpong einen Tischtennisball über einen in der Mitte mit Biergläsern voll gestellten Tisch schlagen, bis jemand ein Glas trifft und dieses zur Strafe austrinken muss. Ziel ist es, den Gegner dazu zu bringen, möglichst schnell viel Bier in sich hineinschütten zu müssen. Verloren hat das Team, dessen Mitglied sich zuerst dem Klobecken anvertraut.
Kennen Megans Eltern diese Rituale? „Ich lüge sie nicht an.“ Sie sagt, ihre Eltern wüssten, was in Ocean City passiert, und vertrauten ihr. Täglich telefoniert sie mit ihnen, damit sie sich keine Sorgen machen. Sie haben Angst, dass ihre Tochter betäubt Sex hat und dann eine Abtreibung droht. Doch Megan erklärt, sie habe strikte Moralvorstellungen. Sex komme für sie noch nicht in Frage, schließlich wolle sie nicht schwanger werden und sich nicht mit HIV anstecken. Bei genauerem Nachfragen erweist sich der gepriesene Verzicht, der vom Präsidenten stammen könnte, als recht dubios. Nun ja, Petting sei schon okay, sagt Megan. Und Oralsex auch. Richtiger Sex sei ja nur Geschlechtsverkehr. Nach ihrem Verständnis lebt sie keusch: „Ich bin noch Jungfrau.“ Sie nimmt für sich nur in Anspruch, ausprobieren zu dürfen, was die Jungens selbstverständlich auch tun.
Um Rechnungen mogelt sich Megan herum. „Die Jungs bezahlen alles.“ Sie selbst könnte sich die sieben Tage Dauerparty nicht leisten, und ihre Eltern zahlen nichts dazu. Zwar jobbt sie neben der Schule in einem Kaufhaus und in einem Restaurant, doch das Geld steckt sie fast ausschließlich in die Raten für ihren Kleinwagen, mit dem sie zur Schule fährt.
Während Megan am Sonntagmorgen an einer Flasche Gatorade schlürft, um den Nachdurst zu stillen, erzählt sie von der privaten Mädchenschule, die sie in Baltimore besucht. Davon, dass sie glaubt, Mädchen entwickelten dort mehr Selbstbewusstsein, und dass der Unterrricht ohne Jungs unkomplizierter sei. Sie kann morgens spät aufstehen, braucht kein Make-up, muss sich um ihre Frisur nicht kümmern und kann unverkrampft mit ihresgleichen über alle Themen reden, die sie bewegen. Das findet auch ihre Schulfreundin Jill, die ein Jahr älter ist. Sie ist etwas blass und spricht nicht viel. Megan meint, Jill habe letzte Nacht ziemlich viel gekotzt.
Ganz lassen sich Probleme auch in Ocean City nicht vermeiden. Es gibt Ärger mit der Polizei oder beim Autofahren oder mit beidem. „Cops sind überall“, sagt Megan. Ihr Vater ist Polizist in Baltimore und hat ihr eingeschärft, wie sie sich zu verhalten hat. Oberste Regel: Man muss vermeiden, laut zu sein, sich unauffällig in der Öffentlichkeit bewegen und unbedingt den Wagen stehen lassen. Viele ihrer Freunde halten sich vor allem nicht an letzteren Rat. Insgesamt starben im Jahr 2000 in den USA 4.500 Teenager, weil sie betrunken Auto fuhren, eine halbe Million wurde verletzt.
Um die Konsequenzen der Partywochen zu minimieren, hat Ocean City alkoholfreie Spaßprogramme aufgelegt. Responsible fun, verantwortungsvoller Spaß, soll Kids zu organisiertem Bowling oder Beach-Volleyball an den Strand locken. Megan rümpft die Nase. Responsible Fun? Ein schlechter Scherz.
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