„Auch bei uns gilt jordanisches Recht“

In Deutschland gilt grundsätzlich deutsches Recht. Aber in Fällen mit „Auslandsbezug“ kann auch das dortige Recht angewandt werden, zum Beispiel bei Immigranten, die in Mehrehe leben: Ein Interview mit dem Rechtswissenschaftler Mathias Rohe über die Anwendung islamisch geprägten Rechts

von CHRISTIAN RATH

taz: Herr Rohe, Sie haben darauf aufmerksam gemacht, dass islamisches Recht schon heute in Deutschland respektiert und angewandt wird. Was meinen Sie damit?

Mathias Rohe: Wenn ein Jordanier in Deutschland eine Jordanierin heiratet, dann gilt jordanisches Eherecht. Und wenn die beiden sich in Deutschland scheiden lassen, geschieht auch dies nach jordanischem Recht.

Warum wird in Deutschland plötzlich jordanisches Recht angewandt?

In Deutschland gilt natürlich grundsätzlich deutsches Recht. Das Grundgesetz, das Verwaltungsrecht und die Strafgesetze gelten für alle gleichermaßen. Wenn aber Privatpersonen miteinander Geschäfte treiben oder Rechtsbeziehungen eingehen, dann kann in Fällen mit Auslandsbezug auch ausländisches Recht angewandt werden. Welches Recht konkret anwendbar ist, regelt das so genannte Internationale Privatrecht, das in Familienangelegenheiten weitgehend auf die Staatsangehörigkeit der Beteiligten abstellt.

Auch wenn zwei Ausländer dauerhaft in Deutschland leben?

Ja, auch dann.

Was ist der Sinn dieser Regelung? Warum sollen zwei Jordanier, die sich entschieden haben, in Deutschland zu leben, nicht nach deutschem Recht heiraten?

Das Gesetz geht davon aus, dass es für Menschen und Unternehmen besser ist, wenn sie ihre privaten Rechtsbeziehungen in dem aus der Heimat gewohnten Rahmen regeln können. Ich persönlich würde es allerdings vorziehen, wenn bei ständigem Aufenthalt in Deutschland nicht mehr die fremde Staatsangehörigkeit maßgeblich wäre. Aber dies müsste der Gesetzgeber ändern.

Sind deutsche Behörden und Gerichte nicht überfordert, wenn sie zum Beispiel jordanisches Recht anwenden müssen?

Es stimmt, dass jordanisches Eherecht in der deutschen Juristenausbildung keinen großen Raum einnimmt. Aber Juristen können sich ja auch in neue Rechtsgebiete einarbeiten. In schwierigen Fällen muss dann eben ein Gutachten eingeholt werden.

Nun sind ja islamisch beeinflusste Rechtsordnungen nicht nur einfach anders als die Rechtslage in Deutschland. Manches finden wir auch schwer erträglich, zum Beispiel dass ein Ehemann seine Frau einfach verstoßen kann, während die Frau fast keine Möglichkeit hat, eine Scheidung zu erreichen. Müssen in Deutschland auch solche Regelungen akzeptiert werden?

Ausländisches Recht ist in Deutschland nur so lange anwendbar, wie der Ordre public nicht verletzt ist. Das heißt: Die „wesentlichen Grundsätze des deutschen Rechts“ – insbesondere die Grundrechte – sind zu beachten.

Und was gilt nun, wenn Männer sich sehr leicht und Frauen fast gar nicht aus einer Ehe lösen können?

Das hängt vom Einzelfall ab. Deutsche Behörden und Gerichte prüfen nicht, ob eine ausländische Vorschrift als solche den deutsche Ordre public verletzt, sondern ob ihre Anwendung im konkreten Fall zu unerträglichen Ergebnissen führt. Wenn etwa ein Jordanier seine jordanische Frau verstößt, dann ist zu prüfen, ob die Ehe auch nach deutschen Maßstäben als zerrüttet galt. Wenn ja, dann wird die Ehe als beendet betrachtet. Erfolgte dagegen die Verstoßung völlig überraschend, würde sie nicht anerkannt.

Welche islamisch geprägten Vorschriften sind noch problematisch für das deutsche Rechtsverständnis?

Zum Beispiel die Regelung, dass nach einer Trennung das Personensorgerecht für Kinder ab einem gewissen Alter – zum Beispiel ab sieben Jahren – generell beim Vater liegt. Oder dass eine Ehe automatisch als geschieden gilt, wenn einer der beiden Partner vom muslimischen Glauben abfällt.

Im Koran ist auch die Polygamie anerkannt. Ein Mann darf bis zu vier Frauen heiraten. Wie reagiert deutsches Recht hierauf?

Die Mehrehe wird akzeptiert, wenn sie schon vor der Einreise nach Deutschland wirksam geschlossen wurde. Grundsätzlich werden dann auch von den deutschen Behörden mehrere Frauen als Ehefrauen des Mannes angesehen. Es wäre ja auch nicht besonders frauenfreundlich, wenn das deutsche Recht ihn zwingen würde, die anderen Frauen zu verstoßen, die sich in ihrer Lebensplanung auf diese Konstellation eingestellt haben.

Und was gilt, wenn die Mehrehe erst in Deutschland geschlossen werden soll?

Dies ist nicht möglich. Dem steht das deutsche Verständnis der Ehe als Verbindung eines Mannes und einer Frau entgegen.

Was gilt im Falle einer Mehrehe, wenn der Mann stirbt? Haben dann alle Frauen Anspruch auf Witwenrente oder nur eine?

Alle Frauen haben einen Anspruch, aber nur anteilsmäßig. Denn auch in einem Herkunftsland ohne Rentenversicherung hätten sie das Vermögen des gestorbenen Mannes unter sich aufteilen müssen. Wenn für die einzelne Frau nach Aufteilung der Rentenansprüche weniger als das Existenzminimum verbleibt, muss aber die Sozialhilfe einspringen.

Nun gibt es ja auch immer mehr binationale Ehen. Gilt das ausländische Eherecht auch dann, wenn einer der Ehepartner die deutsche Staatsangehörigkeit hat?

Nein, dann gilt deutsches Eherecht, jedenfalls wenn die Ehe in Deutschland geführt wird. Wenn dagegen eine deutsche Frau, die einen muslimischen Mann heiratet, mit ihm in ein islamisch geprägtes Land zieht, werden sich die Rahmenbedingungen stark verändern. Dann wird in der Regel das dortige Recht zugrunde gelegt.

Wie kann sich eine Frau davor schützen?

Sie kann einen Ehevertrag schließen, in dem individuelle Regeln vereinbart werden. So kann zum Beispiel die Zahlung von Geld vereinbart werden, das fällig wird, wenn der Mann die Frau verstößt. So wird verhindert, dass sich der Mann aus einer Laune heraus von seiner Frau trennt.

Vertragliche Regeln, die gegen den Ordre public des jeweiligen Landes verstoßen, sind dann aber vermutlich nicht durchsetzbar?

Das ist die Gefahr. Deshalb sollte sich eine Frau vor der Heirat mit einem muslimischen Mann gut beraten lassen.

Ist so viel Misstrauen nicht eine schwere Belastung für eine junge Beziehung?

Nein, es geht ja nicht um persönliches Misstrauen. Vielmehr ist die deutsche Frau im Fall einer Übersiedlung ins Heimatland des Mannes in einer schlechteren Position als einheimische Ehefrauen, die auf den Rat und die Hilfe von dort lebenden Verwandten zurückgreifen können. Dieses Defizit muss durch eine vorsorgliche Rechtsgestaltung ausgeglichen werden. Beratung in diesem Sinne ist nicht diskriminierend, sondern im Interesse aller Beteiligten sehr zu empfehlen. Das sehen übrigens auch viele Muslime in Deutschland so.

Die meisten in Deutschland lebenden Muslime sind Türken. Wie stark ist das türkische Privatrecht noch vom Islam geprägt?

Die Türkei hat sich schon 1926 explizit von islamrechtlichen Traditionen abgewandt und das Schweizer Zivilgesetzbuch übernommen. Die Polygamie verstößt deshalb auch gegen den türkischen Ordre public.

Wenn Vorschriften des türkischen Rechts teilweise noch problematisch sind, dann hat dies also mit dem Islam gar nichts zu tun?

Nein, das ist dann Ausdruck des in der Türkei herrschenden patriarchalischen Ehe- und Familienverständnisses. Zu diesem Rollendenken scheint auch das aus der Schweiz importierte Gesetz ganz gut gepasst zu haben. Zum Jahresbeginn trat übrigens ein neues Zivilrecht in Kraft, das die Stellung der Frau in der Ehe und nach einer Scheidung deutlich verbessert hat.