: Cool bleiben, schnell laufen
Ingo Schultz, einer der deutschen Hoffnungsträger bei den Leichtathletik-Europameisterschaften, hat keine Probleme mit der Favoritenrolle über 400 m und zieht souverän ins heutige Halbfinale ein
aus München FRANK KETTERER
Die Ränge im Münchner Olympiastadion waren nur spärlich gefüllt, und doch galt es schon am frühen Morgen die Pflicht zu erfüllen für den 400-Meter-Läufer Ingo Schultz. Der 27-Jährige tat es mit souveräner Routine, nachdem er beim ersten Startschuss noch etwas zu früh gezuckt und somit gepatzt hatte. „Ich war vielleicht doch ein bisschen nervös“, fand Schultz später, „wie ein Rennpferd, das endlich losgelassen werden will.“ Dass er bei diesen Worten lächelte, legte dann aber doch den Verdacht nahe, dass sich das mit der Nervosität in Grenzen gehalten haben dürfte. Der Vorlauf, sein erster bei dieser Leichtathletik-Europameisterschaft in München, im Übrigen auch: Ein bisschen auf die Tube gedrückt auf den ersten 100 Metern, drüben auf der Gegengeraden schon den Gang rausgenommen, auf der Zielgeraden dann nur noch das bereits geschlagene Feld kontrolliert, ohne sich dabei verausgaben zu müssen. Macht 45,79 Sekunden. Schneller waren trotzdem nur der Franzose Marc Raquil und der Spanier David Canal. Pflicht erfüllt also, anders war das von Ingo Schultz sowieso nicht zu erwarten gewesen.
Der Mann hat schließlich noch Großes vor bei dieser EM – und er gibt sich keinerlei Mühe, dies zu verbergen: „Ich sage ganz klar: Ich will gewinnen“, sagt der 2,01-Mann ganz klar, was große Worte sind, keineswegs aber großspurige. Schließlich führt er die europäische Bestenliste mit 44,97 Sekunden an, die Favoritenrolle gibt es dafür gratis. Was die meisten Kollegen meiden wie der Teufel das Weihwasser, nimmt Schultz locker und gelassen hin. „Ich muss sie zwar nicht unbedingt haben, aber ich fühle mich auch nicht unwohl in dieser Rolle“, sagt er nur. Einen Grund, durch die hohen Erwartungen überbordenden Druck zu verspüren, kann er schon gleich gar nicht ableiten. „Als Sportler muss man damit umgehen können.“ Bemerkt er eher beiläufig. Und überhaupt: „Ich habe gut trainiert. Ich habe bisher eine gute Saison abgeliefert. Da macht es keinen Sinn, dass ich mit einer schlechten EM rechne.“ Das klingt nicht nur logisch, es klingt auch ganz schön cool.
Verdammt cool, zumal für einen, der erst vor Jahresfrist mitten hineingestürmt ist in die Weltspitze. Noch bei den Welt-Titelkämpfen in Kanada war der Zeitsoldat Ingo Schultz einer von vielen Schultzens. Dann legte er ein Märchen auf den roten Tartan von Edmonton, wurde Vizeweltmeister – und in nur 44,87 Sekunden plötzlich Schultz, der Wunderläufer. Was so fehlgegriffen gar nicht ist: Weitere drei Jahre zuvor nämlich hatte der 27-Jährige mit der ganzen Lauferei noch gar nichts am Hut, zur Leichtathletik kam er erst im Herbst 1997, weil der Student der Elektrotechnik an der Bundeswehr-Uni Hamburg auch „körperlich ein bisschen was tun wollte.“ Nachdem ihm beim Kugelstoßen und im Hochsprung nur mäßiger Erfolg vergönnt war, blieb er halt bei den 400 Metern hängen. Da passte es von Anfang an.
Und zwar gleich so gut, dass sich Ingo Schultz manchmal selbst wundern muss. Natürlich auch über seine eigenen Leistungen und sein Vermögen, immer noch einen draufzupacken, aber noch mehr doch über das ganze Theater, das bisweilen um ihn veranstaltet wird. Auf Sportfesten, wo ihn vor einem Jahr noch kaum einer kannte, wird er heute im Cabrio und mit mächtig Brimborium ins Stadion gekarrt, und kürzlich erst hat ihn eine Zeitung sogar mit dem Titel „Lichtgestalt“ bedacht, was er dann doch arg übertrieben fand. „Seit der WM ist einiges auf mich eingestürzt“, fasst Schultz Dinge wie diese zusammen und gibt auch zu, dass es „seine Zeit gebraucht hat, bis ich das in den Griff bekommen habe“.
Er hat es hingekriegt, auch weil er die wirklich wichtigen Dinge einfach belassen hat, wie sie waren, schon vor der Weltmeisterschaft in Edmonton und seinem Erfolg. Denn natürlich gab es so manche Anfragen und Angebote von den Trainer- und Managerstars der Branche, die dem Hünen flott versprachen, ihn noch größer zu machen. Schultz hat ein bisschen darüber nachgedacht, dann hat er überall abgesagt. „Das hätte nur alles durcheinander gebracht. Außerdem hat mir mein Umfeld ja erst den Erfolg gebracht“, sagt er. Also trainiert Schultz weiter unter der Anleitung von Jürgen Krempin in Hamburg und nennt das „Loyalität“. Lediglich die Freundin ist neu: Seit Ende letzten Jahres ist er mit der Schwimmerin Antje Buschschulte liiert, die ihre EM bereits letzte Woche in Berlin mit dem Gewinn einer Gold- und einer Bronzemedaille hinter sich gebracht hat.
Heute um 19.50 Uhr läuft Ingo Schultz um die Finalteilnahme, schon morgen um Punkt 20.25 Uhr könnte er dann seine Ankündigung mit dem Europameistertitel in die Tat umsetzen. Den Plan dazu hat er bereits ausgeheckt: „Ich hoffe, dass ich im Halbfinale nicht alles geben muss und ein paar Körner sparen kann“, sagt Schultz. Dann bliebe nur noch das zu tun, was er ohnehin am besten kann: schnell zu laufen.
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