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In einem kranken Haus

Protokoll ULRICH SCHULTE

Morgen

Die Gesichter rauschen an mir vorbei. Während der Visite habe ich im Schnitt sechs Minuten für jeden Patienten. Sechs Minuten, in denen ich einem Menschen mit seinen Ängsten gerecht werden muss. Auf meiner Station liegen 30 Kranke, die meisten sind alt und leiden an einem Bündel von Gebrechen, bei Lungenproblemen fängt es an, oft kommen ein Schlaganfall oder hoher Blutdruck dazu. Mittags muss ich mit der Visite durch sein. Deshalb kläre ich schnell die nötigsten Fragen: Raschelt es in der Lunge? Stimmt der Medikamentencocktail noch, passen Fieber- und Blutdruckkurven ins Bild? Tröstende Worte für die Ehefrau, die extra aus Nürnberg angereist ist, plötzliche Schmerzen in der Brust eines Mannes bedeuten für mich Überstunden. Für Außergewöhnliches gibt es einfach keinen zeitlichen Puffer. Dumm nur, dass es ständig passiert.

Seit einigen Monaten bin ich Assistenzärztin auf der Inneren Station. Mein Dienst beginnt um 7.30 Uhr. Bevor ich mich in die 30 Kurzbesuche stürzen kann, kommt die morgendliche Routine: Blut abnehmen, Infusionen anhängen, Medikamente geben, Frühbesprechung. Der Schreibkram, eigentlich keine primär ärztliche Aufgabe, frisst viel Kraft: Nebenher drucke ich fünf bis sechs Entlassungsbriefe aus und gebe sie den Angehörigen. Schreibfehler korrigiere ich schon gar nicht mehr. Außerdem melden die Schwestern Probleme: Herr Soundso sieht so blau aus, der auf Nummer 217 hat Herzschmerzen, wir haben hier ein offenes Bein.

Alle zerren an mir, in der Hektik vergesse ich zwangsläufig Sachen. Dann schrecke ich in der kommenden Nacht auf und denke: Mensch, dem hast du Marcumar verschrieben und ASS nicht abgesetzt. Zwei Mittel, die das Blut dünnflüssig machen und zusammen starke Blutungen auslösen können, wenn der Patient stürzt. Besonders frustrierend ist es, manche Krankheitsbilder wegen des zu engen Zeitkorsetts nicht entschlüsseln zu können. Ich schicke die Leute nach Hause mit dem Gedanken: Hoffentlich geht das nicht schief.

Nachmittag

Für alle, die noch kauen können, gibt es mittags Hackbraten mit Kartoffeln. Für die Übrigen das Gleiche, nur püriert. Meine Mittagspause fällt aus, in der Zeit hake ich zwei bis drei Patienten ab. Ich esse dann, wenn eine Lücke ist – abends um 8 Uhr vielleicht. Unterzuckerungstendenzen überbrücke ich mit Bonbons. Schon jetzt bin ich geschafft vom ständigen Stehen, Laufen und konzentrierten Nachdenken. Um 14.30 haben die Schwestern ihre Übergabe. Bis dahin müssen neue Patienten aufgenommen sein, das ist der erste Endspurt. Dann warten die Arztbriefe für den nächsten Tag. Gegen 15 Uhr fange ich also an, fünf Patientenbeurteilungen ins Diktiergerät zu sprechen – für eine brauche ich eine halbe Stunde.

Bereits um 16 Uhr beginnt aber mein Bereitschaftsdienst auf der zentralen, inneren Aufnahmestation. Spätestens jetzt häufen sich unerledigte Aufgaben zu einem Berg, den ich erst nachts, in meiner eigentlichen Ruhezeit, abarbeiten kann. Drüben auf der Aufnahmestation liegen vier Patienten in frischen Betten, müssen befragt und untersucht werden. Wieder ein kleines Rechenspiel: Eine Stunde brauche ich für jeden. Schon zwei Stunden später, um sechs Uhr, kommt die Abendroutine dazwischen – Infusionen, Blut abnehmen, wie gehabt. Unmöglich. Alles was ich tun kann, ist, die vier notdürftig zu versorgen. Der Berg für Unerledigtes wächst.

Abend und Nacht

Um acht Uhr renne ich zurück in die Aufnahmestation, inzwischen sind es nicht mehr nur vier Patienten. Hektik zu verbreiten bringt jetzt nichts mehr. In aller Ruhe nehme ich sie nacheinander auf, die drei ausstehenden Arztbriefe habe ich im Hinterkopf. Für die Patienten ist das Warten eine Tortur. An solchen Abenden sind mir multimorbide Kranke am liebsten. Das sind kaum ansprechbare Pflegefälle, bei denen ich einfach vor mich hinbrummeln kann. Dann liegt eine Frau mit Parkinson vor mir. Sie versteht, denkt und redet in Zeitlupe. Auf die Frage nach dem Sturz in ihrer Wohnung kommt zehn Sekunden nichts, der folgende Satz dauert eine Minute. Ich sitze da und denke: Ich muss es wissen, ich habe keine Chance, ich muss zuhören. Alle anderen Fragen habe ich mir für den Morgen aufgehoben. Je später es wird, desto langsamer, ja schildkrötenartiger arbeite ich. Gegen zwei Uhr morgens komme ich zu meinem letzten Patienten. Den Mann hätte ich besser früher gesehen. Ich öffne die Tür, er setzt sich im Bett auf, verdreht die Augen und sackt zusammen. Plötzlich bin ich wieder hellwach, lege ihn wieder in die Waagerechte und halte ihm die Beine hoch. Er kommt zu Bewusstsein, die anschließende Befragung findet in Kopftieflage statt, aber er hält sich wacker. Eine Bauchspeicheldrüsenentzündung fällt eigentlich in die Zuständigkeit der Chirurgen. Aber der Kollege, den ich dazu hole, winkt ab. Och, nicht so schlimm, operieren wir später. Nachts ist es schwierig, die Patienten an andere Stationen abzugeben – alle minimieren die eigene Arbeit, wo sie können. Danach bin ich in jeder Hinsicht fertig, schleppe mich auf meine Station und rede wirres Zeug ins Diktiergerät. Hauptsache, es ist etwas geschrieben. Schlafen, endlich, nach über 20 Stunden Arbeit. Wenn nachts der Funkalarm geht, der Pieper, kann es passieren, dass ich ihn erst überhöre. Einmal hat mich eine Schwester fünfmal angefunkt, bevor ich es mitbekommen habe. Als ich aufs Display schaute, hatte ich ein mulmiges Gefühl. Wenn ich drei Stunden am Stück schlafe, ist es eine erholsame Nacht.

In meinem Arbeitsvertrag steht Bereitschaftsdienstgruppe D. Von der Zeit zwischen 16 und 7.30 Uhr darf ich demnach 49 Prozent arbeiten. Offiziell. Ich habe bereits gewisse Abwehrmechanismen entwickelt. Wenn mich eine Schwester weckt, weil ein Patient gestorben ist, ertappe ich mich oft bei einer fast gleichgültigen Reaktion. Ein Toter, gut, ich bin gleich da, murmele ich in den Hörer – und nicke wieder ein. Ich reiße mich zusammen für die, die mich brauchen, für alles andere fehlt die Kraft.

Morgen

Um sechs bin ich wieder auf den Beinen für die Standarduntersuchungen, um 7.30 kommt meine Ablösung. Ich übergebe meine Patienten – erst an den nächsten Stationsarzt, dann an meinen Chef, der um acht Uhr kommt. Wegen des Mannes mit Bauchspeicheldrüsenentzündung brüllt er mich an, er hätte schon in der Nacht verlegt werden müssen. Konstruktive Kritik gibt es nicht, ich muss entweder Allwissenheit vorspiegeln oder seiner Diagnose demütig zustimmen – und das nach 24 Stunden fast ununterbrochenen Dienstes. In Überstunden, die ich freiwillig dranhänge. Ich habe bisher zweimal Patienten rüde angefahren, weil mir der Geduldsfaden gerissen ist. Danach habe ich mich schlecht gefühlt. Dafür bin ich nicht Ärztin geworden. Wenn ich das einreißen lasse, arbeiten nicht nur das System, der Chef und die Zeit gegen mich, sondern letztlich auch ich selbst.

Mehrere angefragte Krankenhäuser verweigerten der taz eine Beobachtung vor Ort. Die zitierte Ärztin wollte aus Angst vor ihren Chefs nur anonym aus ihrem Alltag berichten. Das Foto zeigt nicht sie, sondern eine Kollegin aus einer anderen Klinik.

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