: Another Day At The Office
Velotaxifahren in Berlin ist herrlich. Sogar für den Fahrer beziehungsweise die Fahrerin
von STEPHANIE BART
Der Mann, der seit einer viertel Stunde am Eingang des KaDeWe wartet, begrüßt jetzt eine Frau. Sie kommt vom Ku’damm her und ist sehr schön. Er zeigt auf uns, die wir hier mit unseren Velotaxen auf Kundschaft warten, kommt zu mir, sagt: „Zum Rosengarten“ und lächelt dabei so unschuldig wie ein neu geborenes Kind. Dann zieht er sein Portemonnaie, und die Frau wendet sich ab, wie es manche Frauen immer tun, wenn ihre Männer bezahlen. „Wenn ich sage, dass das Wetter heute so schön ist“, flüstert er, „dann halten Sie an, ohne irgendetwas zu sagen. Klar?“ Ich nicke. Sie steigen ein und küssen sich, und als wir in die Urania einbiegen, lobt die Frau das Wetter. Er sagt: „Kein Wetter wird je so schön sein wie du, meine Sonne.“
Die rhetorische Eleganz bewundernd, mit der er aus der Verneinung meines Stichwortes ein Kompliment von meteorologischen Ausmaßen für sie macht, trete ich weiterhin gleichmäßig die Pedale. Kurz vor dem Rosengarten sagt der Mann: „Aber natürlich hattest du vorhin Recht, das Wetter ist wirklich traumhaft schön heute.“ Ich bremse sachte ab und bleibe stehen. Die Frau fragt, ob es ein Problem gebe. Ich schweige, der Mann schweigt auch.
Was ist denn?“, fragt sie wieder, und in diesem Augenblick kommt aus dem Gebüsch ein zarter Jüngling von fünfzehn oder sechzehn Jahren mit einem bezaubernden Lächeln auf den Lippen und einem üppigen Strauß roter Rosen in den Armen, übergibt ihr den Strauß und verschwindet, wie er erschienen war. „Komm“, sagt der Mann, „wir gehen in den Rosengarten.“ Ich sehe ihnen nach, wie sie hineingehen, er nimmt sie bei der Hand und greift mit der anderen in die Tasche seines Jacketts, aus der er ein Schächtelchen holt, gerade groß genug, um zwei Ringe zu beherbergen.
So romantisch kann es sein, ist es aber nicht wirklich immer, ehrlich gesagt: meistens nicht, um nicht zu sagen: so gut wie nie. Geschichten wie diese gehören ebenso zu den wahren Legenden des Jobs wie jene über Trinkgelder, die das Doppelte des Fahrpreises betragen. Sie ereignen sich zwar, aber sehr selten, und wir Fahrerinnen und Fahrer zehren von ihnen, wir erzählen uns regelmäßig mit leuchtenden Augen von reichlichen Trinkgeldern und von mehrstündigen Touren mit Pausen und Einladungen zu Kaffee und Kuchen.
In Wirklichkeit stehen wir, wenn wir nicht gerade eine Tour fahren, an unseren Standplätzen und werden unentwegt nach irgendwelchen Sehenswürdigkeiten, Restaurants oder Läden gefragt, nach Übersetzung und Gangschaltung der Fahrzeuge, ob sie einen Motor haben und vor allem anderen und mit der Regelmäßigkeit und Ausdauer von Gebetsmühlen: ob es nicht anstrengend sei! Manchmal seufze ich schwer und sage: „Ja, es ist entsetzlich anstrengend. Wir sind alle total gedoped, sonst könnten wir den Job überhaupt nicht machen, Sie wissen ja, wie das im Radsport ist.“ Andere Male blähe ich verächtlich meine Nasenflügel und sage: „Anstrengend? Nö, nich die Bohne. Wie komm se’n dadruff? Die Dinger rolln doch so jut wie von alleene.“
Obwohl die Taxen echte Sympathieträger sind, ist die körperliche Arbeit, die zu sehr an Sklavenarbeit erinnert, eine große Hemmschwelle. Ein Kunde erzählt während der Fahrt: „In Indien gab es die Rikschas ohne Fahrrad, wo einer zu Fuß das Ding zieht. Die sind ja wegen Tier… äh, wegen Menschenquälerei verboten worden.“ Das „schlechte Gewissen“, das viele bei unserem Anblick heimsucht, bleibt gleichwohl friedlich und ruhig, wenn sie Gerüststangen tragende Bauarbeiter (Bandscheibenvorfall) oder föhnende Frisöre (Sehnenscheidenentzündung) sehen. Ich selbst, eine der wenigen Fahrerinnen und dazu eher zierlich, muss mir deswegen viel dummes Zeug anhören. Auch im 21. Jahrhundert noch wollen sich manche nicht von einer Frau fahren lassen, weil sie das für „unanständig“ halten, und andere sind in dem Aberglauben verhaftet, dass es für mich „als Frau“ besonders schwer sei.
Tatsächlich sind wir (und besonders ich) über fast jeden Kunden, wie viel er auch wiegen mag, froh, denn wir verdienen, was wir einnehmen (abzüglich der Fahrzeugmiete). So kann man nach sieben Stunden Arbeit zum Beispiel mit fünfzig Euro oder aber auch mit beispielsweise fünfzig Cent in den Feierabend gehen.
Die Firma lässt die Fahrzeuge von einer Werkstatt herstellen, deren einziger Auftraggeber sie ist. Unterdessen akquiriert sie Werbepartner, andere Firmen nämlich, denen sie (zu einem bestimmten Preis) garantiert, dass die mit ihrer Werbung beklebten Fahrzeuge täglich auf der Straße sind. Wir Fahrerinnen und Fahrer mieten dann das Fahrzeug, sowohl, um fünfzig Euro oder fünfzig Cent für uns selbst zu erwirtschaften, als auch, um für die Firma den Werbevertrag zu erfüllen. Das heißt, dass der Eigentümer der Produktionsmittel nicht mehr die Arbeitskraft mietet (Kostenfaktor), sondern stattdessen seine Produktionsmittel vermietet (Einnahmefaktor). Hierzu war auf dem letzten Fahrertreffen angemahnt worden, man müsse der Firma dankbar dafür sein, dass sie uns den Werkstattservice zur Verfügung stelle und uns diese Arbeitsmöglichkeit schaffe und erhalte. Selbstverständlich war auch das ewig gestrige Querulantentum zu vernehmen gewesen, das sich gleichwohl mit der Forderung nach Abschaffung der Fahrzeugmiete eher lächerlich machte und eine gewisse Realitätsferne bewies.
Mir persönlich ist all dies inzwischen völlig egal, seitdem ich einmal einen Tagesverdienst von siebzig Euro hatte, ein andermal für eine Sieben-Euro-Tour 25 Euro bekommen habe, und schließlich, seitdem mich der äthiopische Literaturprofessor, den ich eigentlich nur zum Bahnhof Zoo fahren sollte, in den Schleusenkrug zu reichlich Essen und Trinken einlud, wobei wir uns zweieinhalb Stunden lang intensiv über Gertrude Stein austauschten. Ich muss zugeben, dass „austauschten“ ein wenig übertrieben ist, denn der Mann hat mir Einsichten eröffnet, von denen ich bis dahin nicht einmal geträumt hätte, was umgekehrt nicht unbedingt der Fall gewesen sein mag.
Aber heute habe ich als Erstes eine fette, frustrierte Berlinerin mit zwei nörgelnden Nervensägen in der Kutsche, die mir erzählt, ursprünglich habe man in Indonesien die Rikschas deshalb eingeführt, weil es dort viel zu heiß sei, um eine längere Strecke zu Fuß gehen zu können. Danach stehe ich zwei Stunden am Wasserklops, ohne dass irgendjemand fahren möchte, und bekomme einen guten Teint. Zwei meiner Lieblingskollegen sind auch hier. Wir teilen unseren Proviant und erzählen uns außer den wahren Legenden noch allerlei anderen Unsinn. Ein etwas älterer Mann von schwangerbäuchiger Statur schiebt seinen Bauch heran und klopft mit großer Kennermiene vorn aufs Fahrzeug, die bald in eine Mischung aus Ratlosigkeit und Technikfaszination übergeht, während er schweigend die Pedale beschaut. Dann fragt er meinen Kollegen nach der Zahl der Gänge und dem Gewicht des Fahrzeugs, und bevor er sich verabschiedet, fragt er ihn auch noch, ob ich seine Frau sei. Mein Kollege sagt: „Noch nicht, wir heiraten nächste Woche.“ Der Alte nickt wissend und lächelnd in die Ferne und geht weiter.
Obwohl ich auf Platz eins bin, die nächste Tour also meine ist, gebe ich auf und fahre zum Kranzlereck. Später wird mir der Kollege, der am Wasserklops auf Platz drei gestanden hatte, erzählen, dass kaum nachdem ich weg war, zwei ältere Herren gekommen sind, um sich ins Hotel Adlon bringen zu lassen, und danach zwei junge Leute, um eine halbe Stunde lang im Tiergarten spazieren zu fahren. Vom Kranzlereck aus bringe ich einen jungen Mann in die Bleibtreustraße. Er fahre immer Velotaxi, wenn er einkaufen gehe, sagt er, weil das so ungemein entspannend sei, die Langsamkeit des Dahinrollens lasse die nervöse Eile der Kaufhäuser und Läden von ihm abfallen, er ist in Plauderlaune, die Preise, das Wetter, die Arbeit …
Danach fahre ich leer zum KaDeWe, wo ich in dem unaufhörlichen Strom von Touristen und Einheimischen stehe, und nachdem ich eine Weile all die Strömenden daraufhin abgescannt habe, ob sie potenzielle Kunden seien, werde ich von zwei reizenden, etwas älteren Damen angesprochen, die ich nicht gesehen habe. Sie mieten mich für eine Stunde Sightseeing und sind, wie fast alle Kunden, schon nach den ersten paar Metern hellauf begeistert. Ich fahre ein ruhiges Tempo und erzähle ihnen dies und jenes über die Stadt, die Konversation fließt, sie stellen Nachfragen und rezitieren auf der Königin-Luise-Insel im Tiergarten ein Gedicht der Königin Luise. Am Ende bitten sie mich, ein Foto von ihnen in der Kutsche zu machen, und dann entlohnen sie mich fürstlich und gehen ihres Weges.
Die verbleibenden anderthalb Stunden des Tages zerfließen im Warten und Rauchen und Leute anschaun und Leute anschaun und Rauchen und Warten. Zu Hause hat meine Lebensgefährtin ein wunderbares Abendessen gekocht. „How was your day?“, fragt sie mich, und ich sage: „Well, another day at the office.“
STEPHANIE BART, 37, fährt Velotaxi und arbeitet an einer Kurzgeschichtensammlung, in deren Geschichten kein einziges Velotaxi vorkommt
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