: Neu in Berlin
Wie ist es eigentlich, von Leipzig in die Hauptstadt zu ziehen, und das auch noch mit Hund? Eine wahre Geschichte
von GEORG PELLE
Folge 1: Erst einmal ordentlich anmelden
Graphomanie, Weinschmuggel und Junkfood. Gemälde und Luxusautos. Voll das Leben! Der beim Arbeitsamt namentlich bekannte Autor fand in einer Wohnung mit schlüpfrigem Bezug Unterschlupf. Er quält seinen Hund mit Formularen, Winnetou ist auch mit von der Party, und wir befürchten, dass Fortsetzung folgt.
Nun sitze ich da. Schräg gegenüber die Kanalisation der Stadt Berlin, Pumpstation 6. Nicht der Kiez, aber immerhin Kreuzberg. 1 Zimmer, Bad, Kochnische. Kein Platz für die Waschmaschine. Nach dem Umzug am Sonntag habe ich mich zwischen den Kartons notdürftig eingerichtet. Zuerst die Leselampe montiert und das Radio angeschlossen. Dann aus zwei Klappstühlen und einem Brett einen Tisch kreiert, wo der Laptop Platz hat. Was man so zum Leben braucht. ’ne Pulle Pennerglück hatte ich noch aus Leipzig mitgebracht. Eigenimport ist das.
Es gibt Sonnenwetter am Montag. Ich vergeude es mit Ämtergängen.
Die Anmeldung: Wie in einem Kino sitzen wir in zehn Achterreihen in der Wartehalle, auf die Wartenummeranzeige starrend. Das Gerät macht von Zeit zu Zeit „bimbam“ und blendet eine Ziffer ein. Etwa alle zehn Monate, so kommt’s dir vor. Als Zeitvertreib habe ich nur die taz, immerhin.
Meine Nummer, die 316, ist erst nach vier Stunden dran. Ich bekomme rote Ohren. Warten macht wachsweich. Der Herr Beamte kann, wie in einem schwachen Kabarettstück, einhändig Computer. Besser gesagt: einfingrig. Wieso ich das Formular noch nicht ausgefüllt habe, fragt er. Hätte ich das tun sollen? Die Wände des Warteraums sind mit dreisprachigen Ver- und Geboten tapeziert. Vom Rauchen auf dem Flur bis zum Beherbergen ausländischer Gäste. Kein Wort über Formulare.
Also, er schickt mich zuerst hinaus, ermahnt mich noch, in aller Ruhe und sorgfältig zu schreiben. Dann darf ich außer der Reihe wieder hinein. Er tippt den Inhalt des Papiers in die Höllenmaschine. Bei dem Wort „Reichpietschstraße“ benutzt er mindestens neunzehnmal die Winnetoutaste. Ich bereue es bitter, damals in Leipzig aus der Oststraße ausgezogen zu sein. Wo der Mietvertrag sei, fragt er. Wieso Mietvertrag?, sag ich. Na, wie will ich mich ohne Mietvertrag anmelden? Er erzählt das seiner Kollegin am Nachbartisch. Die beiden lachen. Neu in Berlin? Ja, sage ich zerknirscht.
Gott sei Dank, ich habe das Dokument der Hausverwaltung zufällig doch noch in der Tasche. Das gute Stück scheint die Grundlage allen legalen Aufenthalts in der Hauptstadt zu sein. Ich sage es dem Herrn der Formulare nicht, dass ein jeder mit einem Schreibprogramm so etwas herstellen könnte; nein, ich will sein Weltbild nicht zerstören. Am Ende macht er mich noch frühpensioniert.
Von hier an geht es geradezu rasant vorwärts. Mein Amtmann fertigt mich in einer Viertelstunde ab. Es ist ein Anblick für die Götter, wie er genüsslich den Aufkleber von einem Blatt löst; wie er, die Zunge zwischen den Lippen, darauf „Urbanstraße 4“, nein, nicht schreibt, sondern malt. Hinter ihm eine Uhr an der Wand. Sie steht. Nach kurzem Kramen findet er den richtigen Stempel, dann überreicht er mir meinen neu gestalteten Ausweis. Spürbar erleichtert und nicht ohne Triumph: Bitte schön. Wiedersehen. Ich ziehe nie mehr um! Nicht legal. Nicht in Berlin.
Der arme Pajtásch musste das Ganze vor dem Amt angebunden aushalten. Hunde dürfen da nicht rein. Es ist aber noch nicht aller Tage Abend, mein Köter. Auf, zum Arbeitsamt! Dort gibt es: 1. die Auskunftsstelle, 2. die Voranmeldungsstelle, 3. die Anmeldungsstelle, bevor man 4. bei dem Sachbearbeiter landet. Die Wartenummeranzeige ist kaputt. Macht nichts, sie alle haben die feinsten Flachbildschirmcomputer hier, und diese sind vernetzt. Die letzten drei Mitarbeiter rufen daher jeden mit Namen auf. Es ist ein schönes Gefühl, zu wissen: Man rechnet mit dir.
Bedauerlicherweise sind sie mit dem Leipziger Arbeitsamt nicht vernetzt. Es gilt also, das nächste Formular auszufüllen. Draußen, versteht sich. „Getrennt lebend“ ankreuzen. „Besitzen Sie oder Ihr Ehepartner Schmuck von hohem Wert, Gemälde oder ein Luxusauto?“ Nö, du. Aber ’n Fahrrad, von einem Freund im Jahre 1999 geschenkt. Als er nach Schottland ging. Es gibt kein Kästchen dafür. Schade. Hätt ich gerne angekreuzt.
Es ist leider nur ein Sachbearbeiter anwesend, Fachbereich Handel und Technik. Ich versuche ihm alles über das Gesundheitswesen beizubringen, was ich so weiß. Sichtlich beeindruckt wünscht er mir noch viel Erfolg bei der Stellensuche, bevor er mich mit einem Handschlag verabschiedet. Jetzt ist es sechs. Pajtásch liegt apathisch auf seiner Decke unter dem provisorischen Tisch, und ich esse kalten Hamburger aus der Folie. Ich habe es nicht anders gewollt. Morgen gehen wir mit Anna und Freundin ins Kino. Es gibt den Jurassic Park III.
Folge 2: „Get back to where you once belonged …“
Was geschah bisher? Der Hund Pajtásch und sein Herrchen, der Autor, zogen am vorigen Wochenende schräg gegenüber der Pumpstation 6 aus Leipzig in Kreuzberg ein. Legal? Illegal? Folgende Geschichte beschreibt die Bemühungen der beiden, in Berlin Pfote beziehungsweise Fuß zu fassen.
Es kam schlimmer. Nix Kino mit Anna, sondern Wäsche waschen bei der Ex. Ich könne meine Waschmaschine nicht anschließen, sagte ich Conni am Telefon, habe keinen Platz dafür. Klar, sagte sie, mach nur. Morgen Nachmittag.
Heute ist der Teufel drin. Es regnet Bindfäden. Nach paar Metern Fahrt merke ich, dass ich einen Platten habe. In vierzig Jahren Radpraxis habe ich es gelernt, immer eine Luftpumpe dabeizuhaben. Diese hier pumpt aber nicht. Es ist eine Teleskoppumpe, zum Zusammenklappen. Zierlich und elegant; für die Smokingtasche des Herrn. Sie hat zwei Düsen für zwei verschiedene Fahrradventile, und eine frei schwebende Kugel in dem Pumpkopf sollte automatisch das jeweils nicht benutzte Loch schließen. Sie schließt aber nicht. Ich probiere es erst mit Regenwasser. Dann mit Spucke. Vergebens. Was ich oben in den Schlauch pusten will, pfeift unten wieder raus.
Warum tut sich die Menschheit das an, solche Fehlkonstruktionen immer wieder in den Handel zu bringen? Wer hat schon zwei Sorten von Ventilen auf seinem Rad? Und welcher Ochse kauft so was? Ich schiebe. Im hinteren Schaufenster eines Autogeschäfts steht ein Fahrrad. Drinnen frage ich den jungen Mann mit dem Basecap, ob er auch Luftpumpen zu dem Fahrrad führe. Er geht nach hinten, kommt mit einem Gerät in jeder Hand zurück. Das eine koste 2,99, sagt er. Er hält es mit zwei Fingern, wie eine tote Schlange. Und das andere? 9,99, sagt er; seine Augen leuchten. Es habe zwei Düsen, sagt er, für zwei verschiedene Ventile. Nö, sage ich, danke. Ich nehme das erste.
Pajtáschs listige Räuberaugen verwandeln sich in treue Hundeaugen, wenn es regnet. Seine Locken werden durch die Nässe platt, und er hat dann den „Nimm mich mit nach Hause“-Blick voll drauf. Wie damals im Tierheim. Nix da, Köter! Wir müssen die Wäsche waschen. Er schüttelt sich, ich pumpe, wir fahren.
Conni arbeitet am Computer, die Waschmaschine surrt wie in längst vergangenen Zeiten. Ich sitze in Annas Zimmer und lese die alten Ausgaben der Wendy. „Die fünfzehnjährige Wendy Thorsteeg lebt auf einem Gestüt in Schleswig-Holstein. Eines Tages …“ Beim Ausreiten entdeckt sie, dass böse Männer mit schwarzen Rollkragenpullis irgendwelche Chemikalien in den Fluss kippen. Es ist grausam. Und grottenschlecht gezeichnet.
Anna ist im Schulchor. Als sie wiederkommt, flippt Pajtásch aus. Er vergöttert sie. Er pullert sich vor Freude wieder mal ein. Es sei nur Regenwasser, sage ich. Du alte Sau. Die Mutter der neuen Freundin fahre sie mit dem Auto ins Kino, sagt Anna, wegen Regen. Ob ich mitkäme. Nicht so gern, sage ich. Die Wäsche laufe noch und mein Fahrrad habe einen Platten und es regne. Sei nicht traurig, aber. Nein, sagt sie, sicher nicht. Sie ist das höflichste Kind, das ich je gesehen habe. Die Wendy hat sie längst abbestellt.
Zu Hause, gegenüber von der Pumpstation 6, wartet meine erste Post auf mich. Dieses großformatige Kuvert kenne ich nur zu gut. Habe davon 23 Stück noch aus Leipzig nach Berlin abgeschickt. Sie verheißen nichts Gutes, wenn sie zurückkommen. „Vielen Dank für Ihr Interesse.“ Blablabla. „Für einen anderen Bewerber entschieden.“ Blablabla, „schicken wir Ihnen die Unterlagen zurück“. Das zweite Kuvert ist kleiner. Vom Arbeitsamt. „Ich freue mich, Ihnen folgende Arbeitsstelle vorschlagen zu können: Blablabla, „Lohn nach Vereinbarung“, blablabla. „Einsatzort: Leipzig.“ Treffer! Schwimmt noch.
Folge 3: Mein Königreich für ein Fahrrad!
Was bisher geschah: Ein ungezogener Tierheimköter und der Autor, der wegen seiner unbezahlten Abos bei der taz bekannt ist wie ein bunter Hund, wohnen seit neustem bei der Pumpstation 6 in Kreuzberg. Der menschlische Protagonist bevorzugt dunkle Unterwäsche und Fahrradpumpen mit nur einer Düse. Die fünfzehnjährige Wendy ist grausam. Wo bleibt Winnetou?
Ostbahnhof … Mariannenplatz … Oranienstraße … Kochstraße. Bei der taz durch die Schaufenster spähen. Blaue Kreise vor den Augen. Den Checkpoint Charlie machen wir aber noch, erst dann gibt es Milchkaffee. Auf dem Freisitz, wie die Leute im Fernsehen. Pajtásch verbellt die Tauben und kippt meine Tasse um. Du führst dich wirklich auf wie der letzte Landköter!
Was muss das für ein Genuss sein, in Berlin ein Fahrrad zu haben! Das war mal so. Ab Sonntag sind wir selber Berliner. Kreuzberger, von der Pumpstation 6. Das Rad ist wieder geflickt, die Sonne scheint – komm, Maus! Die Umzugskartons können warten. Blücherstraße … Südstern … Hasenheide. Die Hunde scheinen hierzulande nur ausnahmsweise an der Leine zu sein. Frauchen auf dem Fahrrad, Rexy wieselt sich zwischen den Fußgängern auf dem Gehsteig vorwärts. Sieht megacool aus. Das müssen wir können, hörst du?
Die Hundewiese ist nicht einmal ein Drittel so groß wie die in Leipzig, dafür aber umzäunt, zwecks Sicherheit der Passanten. Mit Türchen. Dieses ist niedrig genug, dass ein großer Rabauke spielend herübersetzen kann, und für die Giftzwerge gibt es unten eine Spalte zum Durchschlüpfen. Das Gras ist abgewetzt, es gibt fünfmal mehr Besucher, als ihm gut tut. An die zwanzig Tiere, große und kleine. Sie sind überdreht, nervös, haben keinen Überblick mehr. Zweiminütlich entsteht eine Keilerei, die von den Menschen sofort unterbunden wird. Das heißt: Die nicht ausgetragene Aggression bleibt dir unter dem Pelz.
Ein Tätowierter wirft seinem Odin Balla. Der Schäferhund apportiert wunderbar, lässt aber das Spielzeug nicht aus den Fängen. Er wird angebrüllt: Odin! Aus! Odin! Aus! Etwa 42-mal. Der Mann dreht an den Ohren des Tiers. So was tut einem Hund höllisch weh. Odin knurrt. Es entsteht ein Zerrkampf um den Ball. Pajtásch zittert an meinen Füßen am ganzen Körper vor Aufregung. Er war nämlich mal Balla, das ein anderer Odin nicht mehr hergeben wollte. Das dominantere Lebewesen gewinnt. Tattoo zündet sich eine Marlboro an und setzt sich auf die Bank. Odin stellt den Ball auf den Boden und legt sich gelangweilt hin. Er sieht aus wie Pajtáschs Erzfeind Leo: groß, schwarz und überzüchtet. 290 Mark bekam der Tierarzt wegen deines angeknacksten Wirbels, weißt du noch? Ich wollte dir nachher Leo festhalten, damit du ihm die Eier abbeißen kannst. Gehen wir lieber. Ich mache die kleine Tür hinter uns zu.
In einer Bucht des Spazierwegs sammeln sich Leute um kleine Tische aus Beton. Man spielt hier Schach. Man ignoriert den aufziehenden Nieselregen. „Du musd dän Gänigsbauer obfern, weisdu“, sagt der eine Zuschauer. Dem Akzent nach Russe. Ja, das sind sie alle, jüngere und ältere russische Männer. Sie sind mit Fahrrädern da, sie kennen sich. Sie sprechen jedoch demonstrativ Deutsch miteinander. Ich wähle einen Tisch ohne Herumstehende zum Zugucken. Glück gehabt: Die Spieler hier führen fulminante Partien, die sich auf jedem Turnier sehen lassen könnten. Es ist ein Genuss, soweit ich ihren Strategien von der Geschwindigkeit her folgen kann.
Der eine ist um die sechzig, trägt eine goldene Brille. Er heißt Anton. Der andere hat keinen Akzent, trägt speckige, abgewetzte Klamotten, er ist klapprig und blass. Er wird von Anton spöttisch mal mit Doktor, mal mit Professor Helmut angeredet. Es ist zu bewundern, wie dieser trotz seiner langen, schwarzen Fingernägel die Figuren doch noch so anmutig bewegen kann. Er lässt seine zerknitterte Pennertüte die ganze Zeit nicht aus der linken Hand. Goldbrille quatscht unaufhörlich. „Spielst du noch weiter? Du bist tot. Achtung, Besuch kommt!“ Helmut lässt sich nicht einschüchtern. Er spielt brillant, wenn auch mit wenig Glück. Genauer gesagt: Er setzt falsche Züge nicht zurück, was sich Anton von Zeit zu Zeit durchaus erlaubt. Es steht 10:7.
An den anderen Tischen hört man nach und nach zu spielen auf. Wir bekommen immer mehr Kiebitze. „Ah, Meister Anton und Professor Helmut! Komm, da kannst du was lernen!“ Der Professor wird jetzt von allen Seiten angelabert. Plötzlich merkt man, dass dies kein Spiel mehr ist; es geht um etwas anderes. Aussiedler gegen Eingeborene, Russland gegen Deutschland, Etablierte gegen Abgewrackte. Wir haben Humor, wir sind jovial. Wir halten zusammen. Zuletzt greift einer direkt in das Spiel ein, er zieht für Anton. Helmut schlägt sich tapfer und verliert nur knapp. Die Gruppe johlt, aber es fällt immer noch kein russisches Wort.
Hund, wir fahren! Kottbusser Damm … Oranienstraße … Kochstraße. Hallo, taz, wir kommen! Berliner Luft pfeift dir um die Ohren, hach! Die Sonne ist wieder da, und wen jucken schon die Tauben. Pajtásch läuft ohne Leine Premiere.
Folge 4: Zugereiste
In den vorigen Kapiteln: Landköter Pajtásch und der Autor, der bei der taz was abzuarbeiten hat, versuchen seit Tagen, Berlin zu erobern. Die russische Mafia spielt fulminant Schach, spricht untereinander aber ausschließlich Deutsch. Leo sind beinahe die Eier abgebissen worden. Ist Winnetou mit Wendy durchgebrannt?
Möbelgeschäft; kein Hundeverbotsschild. Wir gehen zusammen hinein. Haben Sie diese Knöpfe aus Filz, die … Der jüngere Mann unterbricht mich: Schonbezüge aus Filz? Hammwa. Er starrt auf den Hund. Nee, diese Knöpfe aus Filz, sage ich, die man unten an das Stuhlbein nageln kann. Mein Fußboden sei nämlich mittlerweile ganz …
Der Chef telefoniert nebenan. Er hält den Hörer mit der Hand zu. So was gebe es nur im Baumarkt, blafft er. Auch er lässt Pajtásch nicht aus den Augen. ’tschuldigung, sage ich. Hätte ja sein können. Wiedersehen. ’tschuldigung. Sie antworten nicht.
Draußen schaue ich mir das Firmenschild noch mal an. „Designmöbel aus Skandinavien“. Mein Gott, was habe ich bloß getan?
Bei Lidl haben zwei Frauen ihre Einkaufswagen zur Seite geschoben. Die Blonde mit dem Jogginganzug erzählt wie ein Wasserfall, in breitem Berlinerisch. Über die Operationen an der Wirbelsäule, über Anträge an das Sozialamt und über die Arbeitsunfähigkeit. In Leipzig tut man so was nicht. Die Ossis gehen in eine Kaufhalle immer noch wie in den Tempel.
Vor mir an der Kasse eine achtjährige Schönheit mit Käferaugen. In der einen Hand hält sie zwei Packung Milchschnitten. In der anderen rote Cents; den Erlös aus dem improvisierten Flohmarkt, den die Kinder vor dem Laden auf einer Decke abhalten. Die Kassiererin zählt ab. Sie schüttelt den Kopf: Es reicht nicht. Die Kleine übergibt ihr die eine Packung, mit der Grazie einer Prinzregentin. Die Erwachsene nimmt sie mit hochgezogenen Brauen entgegen, als wäre sie ihrerseits die Königin von Saba. Sie zählt wieder ab, sie kassiert. Die ganze Zeit fällt kein Wort, in keiner Sprache. Man versteht sich aus Gesten. Mir gibt die Dame mit einem Lächeln heraus. Danke schön. Schönes Wochenende!, flötet sie. Woher weiß sie, dass ich nicht von hier bin?
Am Montag müssen wir nach Köpenick. Das Amt hat mir einen „Vermittlungsvorschlag“ zugeschickt. Ich gehe ins Gefängnis für Schuldner, bevor ich diesen Job annehme. Das dürfen aber die Tanten auf dem Arbeitsamt nicht wissen. Sie streichen dir das Geld wegen Weigerung schneller weg, als du gucken kannst. Ich glaube, sie kriegen Prozente von der Ersparnis. Also: Lieber stempeln lassen. In Köpenick.
Besser fahren wir Bus und Bahn; ich will nicht vom Radfahren verschwitzt ankommen. Auch wenn ich die Stelle nicht will. Rasieren et cetera, das volle Programm. An der Bushaltestelle studiere ich den Fahrplan des 140ers. Alle zwanzig Minuten. Gut. Zuzüglich Umsteigen und Fahrtzeit; also morgen um 13.11 Uhr. Aufschreiben.
Auf der Bank sitzt eine Dame mit einer feinen, rahmenlosen Brille. Sie könnte eine Schwester in dem nahen Urbankrankenhaus sein. Oder Stationsärztin.
Es war eine dumme Frage von mir, ich weiß. Aber harmlos. Nur wer schon einmal mit meiner Oma zusammen verreist ist, kann sie nachvollziehen. Sicher ist sicher. Und: Man kann ja nie wissen. „Entschul’n Se, kann man hier beim Fahrer das Ticket kaufen?“ Ich spreche in die Leere. Sie wendet den Kopf ab. Ich grinse das blödeste Lächeln, das ich kann. „Entschuldigung?“ Sie wird rot. Sie redet mit der Straße. „Ja. Nein. Bin ich die Auskunft?“ – „Wie bitte?“ – „Ich bin nicht die Auskunft. Fragen Sie die Auskunft!“
Mir bleibt die Spucke weg. Erst zu Hause fällt mir die richtige Antwort ein: „Ist das jetzt die Berliner Schnauze, oder sind Sie auch sonst plemplem?“
GEORG PELLE, Jahrgang 1949, sucht für seinen Zyklus „Neu in Berlin“, dessen Anfang wir veröffentlichen, einen Verleger.
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