Berlin & ich (2)

Wer nur positiv über Berlin redet, kann hier nicht wohnen. Und doch scheitere ich daran, mir eine andere Wahlheimat vorzustellen als diese meist versiffte und kalte Stadt an der Spree (ein Fluss übrigens, der in der Stadt kaum eine Rolle spielt). Weshalb nur?

Wunderbar auf den Punkt gebracht hat das einmal Anneliese Bödecker, Vorstandsmitglied von „Hilfe für krebskranke Kinder“: Die Berliner, hat sie gesagt, „sind unfreundlich und rücksichtslos, ruppig und rechthaberisch, Berlin ist abstoßend, laut, dreckig und grau, Baustellen und verstopfte Straßen, wo man geht und steht – aber mir tun alle Menschen Leid, die nicht hier leben können!“

Natürlich, das ist auch ein bisschen ruppig verbrämter Kitsch. Und, klar, Metropolen haben für wohl jeden einen Reiz, der bisher die meiste Zeit seines Lebens in kleinen, hässlichen Städten der Provinz verbracht hat. Was mir aber schon immer – und auch nach vier Jahren noch – an Berlin gefiel: Im Vergleich zu, sagen wir, München (wo ich ein halbes Jahr erlitt) und Hamburg (wo ich mich anderthalb Jahre fremd fühlte) nimmt mich die Armut Berlins für diese Stadt ein.

Das mag verlogen wirken (und sicher fühlen sich arme taz-Redakteure dort leicht wohler, wo an der nächsten Ecke jemand wohnt, der noch weniger Geld hat). Es bleibt aber wahr, denn die Armut der Stadt hat bei den Alt- und recht schnell auch bei den Neuberlinern Folgen, die den besonderen Charme der Stadt ausmachen: Es fehlt ihr jegliche Schnöseligkeit. Das ist es wohl auch, was man „Berliner Schnauze“ nennt. Zugegeben: Man hört sie nur selten – aber dann ist sie oft ziemlich witzig.

Die Pleite der Stadt hat etwas Nivellierendes: Wo fast jede(r) kaum Kohle hat, wo so viele eine Randexistenz führen, die den Abgrund kennt (siehe frühere Internet-Fuzzis am Prenzlauer Berg) – in solch einer Stadt will Arroganz über mehr Einkommen, einen tolleren Job oder einen höheren gesellschaftlichen Status nur schwer wachsen. Denn wer weiß schon, ob er/sie nicht schon morgen selbst alles verlieren wird, worauf man heute noch stolz ist? Vielleicht deshalb neigt man in Berlin zum schnellen Duzen. Früher hat mich das eher gestört. Heute ertappe ich mich selbst dabei.

Die Armut macht ihre Menschen gleich – gleich im Sinne von „égalité“, nicht in Sachen Outfit, denn wer wenig Geld hat, kleidet sich oft auch origineller, was auch einen Reiz der Hauptstadt ausmacht. Hier wird sich auch in hundert Jahren keine geschniegelte Schickeria etablieren. Aus der „égalité“ untereinander kommt übrigens häufig nach dem Motto der Französischen Revolution in Berlin zudem die „fraternité“: Der Obdachlosenzeitungsverkäufer am Supermarkt bei mir um die Ecke wird von fast allen, denen er sein eher langweiliges Blättchen anbietet, dünkellos und irgendwie solidarisch behandelt. Solche Szenen habe ich in Hamburg und München selten erlebt.

Schließlich folgt aus der „égalité“ und „fraternité“ meiner Stadt ihre „liberté“. Hier fühle ich mich freier in dem, was ich tue oder lasse. Diese stets unfertige und auch vergleichsweise billige Stadt umweht der Atem von Freiheit, permanenter Veränderung, ja Aufbruch. Andere Städte sind schöner. Aber in der Regel auch geleckter, in ihrer Entwicklung abgeschlossener, langweiliger. Zugleich ist diese Stadt voller (düsterer) Geschichte, die bald jedem Straßenzug Tiefe gibt. Und das – ich bin nun mal Historiker – ist auch gut so.

PHILIPP GESSLER