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Es war möglich, möglich, möglich

„Vor sechs, sieben Wochen habe ich noch nicht einmal in Spikes laufen können“: Grit Breuer gewinnt bei der EM Silber über 400 Meter, obwohl sie wegen einer schmerzenden Achillessehne die Saison vorzeitig beenden wollte

MÜNCHEN taz ■ Auf der Zielgeraden gab es sogar einen Moment, in dem es von der Tribüne aus so aussah, als könne Grit Breuer doch noch heranlaufen an die Russin Olesya Zykina und sie vielleicht sogar noch überholen. Der Eindruck von oben schien nicht zu trügen, jedenfalls hatte ihn unten, auf dem roten Tartanbelag des Münchner Olympiastadions, auch Breuer selbst gewonnen.

„Ich habe plötzlich nochmal gedacht: Es ist möglich, möglich, möglich“, gab sie später Einblick in ihre Gedankenwelt auf den letzten 80 Metern im Rennen über die Stadionrunde. Schließlich sah man der Russin regelrecht an, wie sie kämpfen musste, um nicht zu früh an Fahrt zu verlieren.

„Sie ist hart geworden“, hatte auch Breuer beobachtet, und damit die Muskeln der Konkurrentin gemeint. Möglich wurde der Sieg dennoch nicht mehr: Zykina rettete den EM-Titel über 400 Meter in 50,45 Sekunden ins Ziel, Breuer kam 25 Zehntelsekunden nach ihr und somit in 50,70 Sekunden über den weißen Zielstrich.

Es ist also nichts geworden mit dem dritten EM-Titel nach 1990 und 1998 für die 400-m-Läuferin aus Magdeburg. Aber das war nicht weiter schlimm, wirklich nicht, und man sah das sofort nach dem Rennen: Breuer schnappte sich eine deutsche Fahne und machte sich auf zur Ehrenrunde, und dabei strahlte sie und hüpfte sorglos umher wie es normalerweise kleine Schulkinder in der großen Pause tun. „Ich bin überglücklich, dass ich Silber gewonnen habe“, sagte sie immer wieder, was eigentlich überflüssig war, zu betonen, auch das sah man sofort.

Dabei neigt Grit Breuer keineswegs prinzipiell dazu, sich über Niederlagen so ausgelassen zu freuen. Ganz im Gegenteil: Wenn andere besser sind, können schon mal auch Tränen fließen, so wie bei der Weltmeisterschaft in Edmonton, als sie nur Vierte wurde. Um den Haussegen im Hause Breuer soll es in solchen Fällen dann ebenfalls nicht zum besten bestellt sein, schließlich ist Breuers Trainer Thomas Springstein auch ihr Lebengefährte und durchaus bekannt dafür, ein strenges Regiment zu führen. Diesmal aber schaute auch Thomas Springstein freundlich drein, offensichtlich war auch er zufrieden.

Dazu gab es ja auch allerlei Grund, denn bei dieser Europameisterschaft von München hatte die 30-Jährige nun wirklich nicht Gold verloren, sondern ganz klar Silber gewonnen. Heftige Beschwerden an der Achillessehne hatten ihr das Leben in dieser Saison schwer gemacht, besonders schwer. „Vor sechs, sieben Wochen habe ich noch nicht einmal in Spikes laufen können“, verriet Breuer. Statt im Training schnell zu laufen, fuhr sie eine Menge Rad und hielt sich mit Aquajogging fit. „Ich habe da richtig Kacheln gezählt“, gab die Magdeburgerin nun einen Einblick in ihr Trainingstagwerk. Normalerweise bleibt das den Sportskameraden von der schwimmenden Zunft vorbehalten.

Erst seit zwei, drei Wochen kann Breuer einigermaßen schmerzfrei über die Bahn sprinten, die Spikes musste sie freilich auch für das EM-Rennen eigens präparieren lassen: Ihre Schuhe sind nach wie vor an der Ferse aufgeschnitten, um übermäßigen Druck auf die Achillessehne zu vermeiden.

Das klingt verdächtig nach einer langen Leidensgeschichte, die Grit Breuer da hinter sich hat, und da ist es nur verständlich, dass sie sich nach dem Gewinn der Silbermedaille stolz zeigte wie Oscar. „Ich war zwar schon zweimal Europameisterin, aber so hart für etwas kämpfen müssen habe ich noch nie“, sagte sie, einmal habe sie gar ans Aufgeben gedacht und daran, die Saison einfach vorzeitig zu beenden.

Nur gut, dass sie sich bereits anderntags wieder umentschieden und weitergemacht hat. Die Qualifikationsnorm für die Europameisterschaft lieferte sie mit 51,12 Sekunden am letzten Julisamstag und somit punktgenau auf den letzten Drücker. Ein paar Stunden später lief bereits die Meldefrist ab. Dass der Last-Minute-Trip zu Silber führen könnte, hatte sie da noch nicht zu hoffen gewagt.

Nun ist es geschehen, und dabei ist die ursprünglich als Höhepunkt vorgesehene EM ganz nebenbei zur Durchgangsstation geworden. „Für mich hat die Saison erst begonnen“, gab Grit Breuer bekannt, die Medaille baumelte da noch keine halbe Stunde um ihren Hals.

„Ich fühle mich immer besser, und ich werde jetzt immer schneller laufen“, prophezeite sie zudem. Vielleicht wird es dann ja doch noch irgendwo möglich, die Russin Olesya Zykina auf der Zielgeraden einzuholen. KET

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