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Grün ist das Gras auch an den Rheinufern

Der Rasta-Fahnder: Reggae in Deutschland hat Auftrieb, und dieser Rückenwind ließ Tillman Otto alias Gentleman zum Aufsteiger des Jahres werden. Die deutsche Dancehall-Szene hat sich im Schatten des HipHop entwickelt. Doch der Pastorensohn hielt seinen Blick stets strikt auf Jamaika gerichtet

Die Suche nach den Reggae-Roots hat auch auf Jamaika neue Konjunktur erhalten

von HIAS WRBA

Wie bei so vielen, nahm auch diese Geschichte ihren Anfang am Plattenschrank des großen Bruders. Dort nämlich stieß Tillman Otto zum ersten Mal auf Namen wie Dennis Brown und Bob Marley und entdeckte die Klassiker des Rootsreggae für sich. Eine Hand voll erlesener Tapes mit Ragga, die ein Freund kurze Zeit später von einer Reise aus Jamaika mitbrachte, steigerten die Begeisterung des gerade 17-Jährigen nur noch, und so entschloss dieser sich, der Karibikinsel, von der diese Sounds stammten, einen Besuch abzustatten. Das war der Beginn einer wunderbaren Freundschaft zu Jamaikas Musik gewordener Lebensphilosophie, die bis heute anhält.

Einen längeren Aufenthalt auf Jamaika und einige Platten im Gepäck später werkelte der Kölner zunächst fleißig mit an den Anfängen der noch überschaubaren, aber leidenschaftlichen Dancehall-Szene in Deutschland. So versorgte er das heute schon mythenumrankte Kölner Pow-Wow-Sound-System bei deren Dances am Rheinufer nicht nur mit musikalischem Nachschub, sondern griff auch selbst immer häufiger zum Mikrofon und avancierte, unter dem Pseudonym Gentleman, zu einem der besten deutschen Reggae-Dee-Jays. Der Boom, den Reggae momentan erlebt, stand damals allerdings noch in weiter Ferne. „Wir haben uns gar keine Gedanken darüber gemacht, dass diese Musik mal so marktkompatibel werden könnte“, erinnert sich Gentleman. Und wundert sich: „Jetzt kommen 15.000 Leute auf meinen Konzerten, die jede Textzeile mitsingen. Da hat sich schon einiges getan.“

Das kam nicht von ungefähr: Die deutsche HipHop-Szene hat einen wichtigen Beitrag zur Evolution des Genres in Deutschland geleistet. So machte Gentleman auf seinen ausgedehnten Touren durch die deutschen Lande Bekanntschaft mit dem Stuttgarter Freundeskreis-Zirkel; für deren Single „Tabula Rasa“ sang er etwa den Chorus ein. Neben den altgedienten Fans erschloss sich so ein völlig neues Publikum für Reggae-Upbeats: Weitbehoste Teenager begannen nun, sich für die Reize jamaikanischer Riddims zu erwärmen. Und Tilmann Otto fasste sein erstes Studioalbum ins Auge.

Neben einigen Tracks, die er in Köln mit der Digital Diamond Crew produzierte, sollte ein Teil der Platte auf Jamaika eingespielt werden. So kam es, dass Gentleman – nebst Kollege Mighty Tolga und seinem Manager – mit nicht viel mehr als ein paar Telefonnummern von Produzenten und Studios im Gepäck auf der Insel landete. Sein erster Kontakt war die Reggaelegende Richie Stephens und das Zusammentreffen in dessen Mixing-Lab-Studio gleich ein voller Erfolg: Stephens bot ohne langes Zögern einige brandneue, von ihm produzierte Riddims für Gentlemans Albumdebüt „Trodin on“ an. Die Zusammenarbeit sprach sich herum und so erlangte Gentleman, obgleich ein Whitey, auch den Respekt und die Anerkennung vieler jamaikanischer Kollegen.

Dass er seine vielen Reisen vornehmlich allein bestritten hatte, führte zu dem angenehmen Nebeneffekt, dass Gentleman die Umgangssprache Patois beherrschen lernte. Die krude Mischung aus Englisch und afrikanischen Dialekten ohne peinlichen Akzent zu sprechen, vor allem aber auch singen zu können, erleichterte den Zugang zur eingeschworenen Musikszene von Kingston. So konnte Gentleman für „Journey to Jah“, sein kürzlich erschienenes zweites Album, zahlreiche prominente Mitstreiter gewinnen. Allein die Liste der Produzenten, die daran beteiligt waren, liest sich wie ein Who-is-who zeitgenössischer jamaikanischer Musik: Neben Black Scorpio und Bobby „Digital“ Dixon an den Reglern sind, mit Bounty Killer, Luciano und Capleton, einige der derzeit wichtigsten Dancehall-Größen mit Gastauftritten von der Partie.

Dass sich „Journey to Jah“ weg bewegt von toughen, programmierten Riddims, wie sie auf Jamaika derzeit handelsüblich sind, und auf eine warme Liveinstrumentierung setzt, die sich weit zurückwagt zu den Roots der Musik, war dabei kein Hindernis. Denn, so Gentleman, „die Musiker in Jamaika sind sehr flexibel. Ein Bounty Killer und ein Capleton hatten schon immer auf Roots-Riddims ihre Hits, auch wenn sie durch härtere Tunes bekannt geworden sind.“

Musikalisch ist Tilmann Otto damit wieder recht nahe am Plattenschrank seines Bruders angelangt: Bei der weichen Roots-Stimmung eines Marley und eines Brown. Eine Entwicklung, die aber auch auf Jamaika selbst als Consciousness-Movement wieder mehr an Bedeutung erlangt. Produzenten wie Richard Bell und Bands wie Morgan Heritage weisen den Weg zurück zu den Ursprüngen der Musik. In ihren Texten orientieren sie sich dabei, wie ihre Vorbilder aus den 70er-Jahren, mehr an Religiosität und Protest gegen das weltweite Babylon des Kapitals als am aggressiven, selbstbeweihräuchernden Ton, den die meisten Dancehall-Dee-Jays anschlagen.

Spiritualität ist auch bei Gentleman, dem Sohn eines Pastors, ein zentrales Thema. Auf dem Album „Journey to Jah“, der Reise zu Gott, findet sich kaum ein Tune, der ohne Lobeshymnen auf den Allmächtigen auskommt. Mit Haile Selassie I., dem ehemaligen König Äthiopiens, der von den Rastafari als Gott verehrt wird, hat Jah in seiner Kölner Variante jedoch nicht viel gemein: Jah ist hier vielmehr ein Spirit, eine gemeinsamer Geist, der Menschen verbinden soll und der sein Potenzial schöpft aus der Suche nach Offenbarung, die überall auf der Welt die gleiche ist, glaubt Gentleman, mehr am Weg festzumachen als am Ziel. Seine Religiosität ohne Dogma betrachtet Gentleman als Ergebnis seiner vielen Reisen: „In Kingston triffst du 15-Jährige in HipHop-Klamotten, die im Ghetto an der Ecke stehen und über Gott reden, und drei Monate später bist du in Indien und führst fast dasselbe Gespräch mit jemandem, der dieselben Ansichten hat wie die Jungs in Jamaika: Das hat mich beeinflusst.“

Wem solch religiöse Erwecktheit fremd ist, der kann sich aber auch einfach nur über eine schöne Reggae-Platte freuen, die mit internationalen Genre-Standards locker mithält, über die beeindruckenden Liveauftritte von Gentleman, bei denen HipHop-Kids und alternde Rastafaris friedlich nebeneinander im Takt wackeln sowie darüber, dass derzeit zwischen Jamaika und Deutschland ein fruchtbarer Kulturaustausch stattfindet. Denn, wie sagt es Tilmann Otto: „Die Grenzen zerfließen. Es wird immer weniger deine oder meine Kultur, sondern immer mehr unsere.“

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