: Ein Leben im staatlichen Versteck
aus Tichilesti KENO VERSECK
Am Wegesrand neben der Kirche pflückt Victoria Kiseleff Kräuter. Sie stützt sich auf ihren Stock, es fällt ihr schwer, sich zu bücken. Sie sammelt, so viel sie mit einer Hand fassen kann, dann setzt sie sich auf eine Bank in den Schatten einer Linde und zieht das Kopftuch tiefer in die Stirn. Es ist warm draußen. Victoria Kiseleff aber trägt Wollsocken, ein Kleid aus dickem Stoff, einen Pullover und darüber eine alte, lange Schürze. „Das ist wegen unserer thermischen Insensibilität“, sagt sie, als habe ihr jemand beigebracht, zu Fremden so zu sprechen. Dann fügt sie hinzu: „Wir sollen uns zu jeder Jahreszeit warm halten.“ – „Wir“, damit meint die alte Frau sich und die anderen 22 Insassen von Tichilesti, der letzten Leprakolonie Europas. Sie liegt am Rande des Donaudeltas in Südostrumänien, zwei Kilometer abseits der Hauptstraße zwischen den Städten Tulcea und Braila, am Ende eines schmalen, löchrigen Weges, der von der Hauptstraße aus leicht zu übersehen ist, trotz des kleinen Schildes, das auf das „Krankenhaus Tichilesti“ hinweist.
Die meisten Insassen sind über siebzig Jahre alt. Victoria Kiseleff ist 78. Sie lebt seit sechs Jahrzehnten hier, zusammen mit ihrem Mann, in einem kleinen Zimmer am Ende einer barackenartigen Häuserzeile. Ihr Mann Lazar ist ebenso alt wie sie, noch dicker eingepackt in Pullover und Jacken und sitzt draußen neben dem Zimmereingang in der Sonne. Seine weiten Filzschuhe haben keine Schnürsenkel. Sie halten auch so, mit all den Lappen und Wollsocken. An der Hauswand lehnen seine Holzkrücken. Er lächelt mit spöttisch heruntergezogenen Mundwinkeln. Nach der Begrüßung mit Handschlag lacht er mit anerkennendem Nicken: „Manche denken, Gott bewahre, hoffentlich werde ich nicht krank. Aber wir sind nicht gefährlich. Als Junggeselle war ich mit vielen Mädchen zusammen. Keine einzige hat sich angesteckt, verdammt noch mal.“
Seine Frau Victoria lacht nicht. Nur ein wehmütiges Lächeln huscht über über ihr müdes Gesicht. Auf die Frage, wie sie das Leben hier findet, sagt sie: „Ich bin hier, weil ich die Geschwüre habe. Die können draußen in der Freiheit nicht behandelt werden.“ Sie schweigt eine Weile. „Was soll ich machen? Es ist notwendig.“ Und schließlich: „Es ist ja auch schön hier und sauber.“ Dabei blickt sie gleichmütig vor sich hin.
Bis zum Sturz des Diktators Ceaușescu im Dezember 1989 gab es sie offiziell nicht: nicht die beiden Kiseleffs und nicht die anderen Insassen von Tichilesti. Die Leprakolonie war ein Staatsgeheimnis. Eingerichtet wurde sie 1929, zusammen mit anderen Leprakolonien in der Gegend. Das Donaudelta war ein idealer Ort, um unheilbar Kranke bis zum Tod in Quarantäne zu halten.
Jetzt gibt es nur noch Tichilesti. Die heutigen Insassen wurden in den Vierzigern und Fünfzigern zwangseingewiesen. Manche wurden von der Polizei hierher gebracht. Bis Anfang der Fünfzigerjahre durfte kein Kranker die Kolonie verlassen. Später, als Lepra heilbar war, gab es Ausgang in die nähere Umgebung, manchmal bis nach Tulcea, die nächste Großstadt. Die Insassen lebten dennoch jahrzehntelang ein Geisterleben. Ihre Fälle tauchten in keiner öffentlichen Gesundheitsstatistik auf und wurden nicht an die Weltgesundheitsorganisation gemeldet. Lepra passte nicht ins nationalkommunistische Rumänien. Also gab es auch keine Lepra.
Tichilesti ist ein gutes Versteck. Wie in einer Sackgasse liegt die Kolonie in einer kleinen Talsenke zwischen zwei bewaldeten Hügeln, hinter denen sich die Dobrudscha-Berge erheben. Auf dem Gelände stehen alte Häuser aus der Vorkriegszeit und eine kleine Kirche. Dazwischen überall Bäume und viele Blumen. Hunde schlafen in der Sonne, Pferde laufen herum und fressen Gras. Auf dem kleinen Platz in der Mitte liegen zur einen Seite die Zimmer der Insassen, zur anderen Küchen- und Behandlungsgebäude. Das Sprechzimmer des Arztes ist frisch und blütenweiß gestrichen. An der Wand hängt ein großes Kreuz. „Die Lepra tötet nicht, sie greift die inneren Organe nicht an“, sagt der 43-jährige Arzt Razvan Vasiliu. „Aber sie verstümmelt für das ganze Leben. Vielleicht rührt daher auch diese biblische Vorstellung, sie sei eine Strafe Gottes.“
Cristache Tatulea kommt gewöhnlich selten ins Sprechzimmer. In letzter Zeit aber oft. Auch heute fragt er: „Herr Doktor, werde ich wieder sehen?“ Seine Stimme zittert ein wenig. Der Arzt untersucht seine Augen nicht. Er sagt nur: „Bitte, Herr Tatulea, haben Sie noch einige Wochen Geduld.“ Er nimmt die Hand des Alten und drückt sie. Tatulea konnte nie gut sehen und zuletzt kaum noch. Das war bei ihm die einzige Folge der Lepra. Im April wurde er an den Augen operiert. Seitdem ist er blind. Er klammert er sich an die Worte des Chirurgen: „Der Professor hat gesagt, die Operation ist gut verlaufen, es wird sich alles regeln, aber mit großer Verspätung.“
Cristache Tatulea ist jetzt siebzig. Er wurde 1951 in die Leprakolonie eingewiesen und drei Jahre später als geheilt entlassen. Wegen seines Augenschadens fand er keine Arbeit, erzählt er. Er kehrte 1957 freiwillig in die Leprakolonie zurück. Hier heiratete er und baute seiner Frau und sich am Hang des Osthügels ein kleines Haus, weil er nicht „beim Staat wohnen“ wollte. So nennt er die Zimmer unten am Platz, in der Häuserzeile. Auch Schränke und Betten hat er selbst gezimmert, sie sehen aus, als hätte er den Tischlerberuf erlernt. Auch Nachbarn hat er geholfen, sich Häuser am Hang zu bauen.
Tatuleas Frau ist vor einigen Jahren gestorben. Seitdem bewirtschaftet er allein den Garten und den kleinen Weinberg, den er vor 35 Jahren angelegt hat. Vor der Operation hat er noch Zwiebeln gesetzt und Blumen gepflanzt. Jetzt sitzt er meistens in seiner kleinen Küche. Er hat das Radio sehr laut gestellt, weil er schwerhörig ist. „Anders als die wirklichen Kranken hatte ich ein schönes, ein herrschaftliches Leben“, sagt er und lächelt ernst und froh. In seinem Gesicht ist keine Spur von Bitterkeit zu sehen.
Unten, beim Staat, ist das Leben nicht herrschaftlich. Die engen Zimmer der Häuserzeile haben nur Toiletten ohne Spülung, keine Badezimmer. Es gibt einen Klubraum mit Fernseher, der läuft fast ständig. Manche Insassen nennen ein paar Quadratmeter Garten ihr Eigen und halten Hühner. Manche sitzen den lieben langen Tag vor ihren Zimmern auf einer Bank.
Tichilesti wird vom rumänischen Gesundheitsministerium finanziert. Pro Insasse und Tag stehen 60.000 Lei zur Verfügung, das sind zwei Euro. Ab und zu kommen Spenden. Gerade werden in einem Gebäude neue gemeinschaftliche Sanitäranlagen mit EU-Geldern gebaut. Der Arzt Razvan Vasiliu erklärt die Fälle der Insassen: Obwohl Lepra ansteckend sei, hätten die hiesigen Patienten sie ausschließlich innerhalb einer Familienlinie geerbt, wobei manche Kranke gesunde Geschwister oder sogar gesunde Kinder hätten. Vermutlich spiele eine spezifische Konstellation des Immunsystems eine Rolle. Schon seit Jahren allerdings, so Vasiliu, trage niemand von den Insassen mehr den Lepra-Bazillus in sich. Seit Ende der Siebzigerjahre habe es auch keine neuen Lepra-Fälle mehr in Rumänien gegeben.
Warum die Kolonie nicht aufgelöst wurde, weiß Vasiliu nicht und auch sonst niemand so genau. Es gebe einige unter den 23 Bewohnern, die täglicher Behandlung bedürften, sagt der Arzt. Wunde Stümpfe, Blinde, Bettlägrige. Bei der Frage, ob die Kranken auch außerhalb der Kolonie behandelt werden könnten, beispielsweise bei Angehörigen, zuckt der Arzt die Schultern.
Einen kostenlosen ambulanten Pflegedienst gibt es in Rumänien nicht. Medikamente sind teuer. Von einer Invalidenrente könnten die Insassen nirgendwo draußen leben. In Tichilesti sind Essen und Behandlung gesichert. „Wir sind eigentlich keine Leprakolonie mehr“, sagt Razvan Vasiliu, „sondern eine soziale Einrichtung, in der alte Leprakranke leben, die hier ihre letzten Tage verbringen.“
Seit dem Sturz des Diktators Ceaușescu sind die Insassen frei zu gehen, wohin sie wollen. Niemand ist gegangen. Die meisten Insassen haben keine Angehörigen mehr. Wie oft ihnen draußen jemand nicht die Hand gegeben hat, darüber reden die meisten nicht gern. Und das Leben draußen liegt sowieso Jahrzehnte zurück. Victoria und Lazar Kiseleff könnten weggehen. Die beiden haben ein kleines Haus im nahe gelegenen Dorf Revarsarea, gleich neben dem Haus ihres Sohnes. Es ist ein armer Hof. Der Sohn der beiden wohnt hier zusammen mit seiner Frau und seinen zwei Kindern und verdingt sich als Landarbeiter.
Die Kiseleffs lieben ihre Enkelkinder und besuchen sie manchmal. Die Schwiegertochter Mioara sagt: „Ich hatte nie Angst vor der Lepra. Mein Mann und meine Kinder sind absolut normal und haben nichts.“ Vielleicht ist es dieser ehrlich gemeinte Satz, der Lazar Kiseleff an seinen Jugendtraum erinnert: „Ich wäre gern Kellner in einem Restaurant geworden. Aber der Professor im Krankenhaus hat gesagt, nein, das geht nicht. Wir konnten eben nicht einfach machen, was uns gefallen hätte.“
Cristache Tatulea würde sein Haus nicht verlassen. Er liebt es, Gäste zu empfangen und ihnen von seinem Wein einzuschenken. Voller Stolz und Freude erzählt er, wie viele Häuser er in seinem Leben gebaut hat, und ebenso stolz zeigt er seinen Weinkeller und den kleinen Weinberg. „Bei uns heißt es, der Mensch heiligt den Ort“, sagt er. „Wenn Sie den Hang hochschauen, da war überall Wald, ich habe ihn mit meinen eigenen Händen gerodet, ich habe gegraben und den Weinberg angelegt. Es ist kein Edelwein, aber ich mache sauberen Wein. Im Jahr geben die Trauben so fünfhundert …“
Er hält plötzlich inne und stottert. Einen Augenblick lang scheint es, als ob etwas Schlimmes mit ihm geschieht. Dann sagt er fassungslos: „Eben, im Licht der Sonne, habe ich die Farbe meiner Hände erkannt.“ Er hält sie hoch und betrachtet sie lange mit einem Ausdruck tiefster Dankbarkeit im Gesicht.
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