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Künstler mit der Narrenkappe

Die untergegangenen Träume: Vor vier Jahren trat Gerhard Schröder nicht zuletzt auch mit einem Kulturversprechen an. Geblieben ist davon die Wiederkehr der höfischen Kultur. Betrachtungen an einem Sonntagvormittag im Kanzleramt

Schröders saloppe Ignoranz zeigt den Stellenwert von Kultur in der Gesellschaft

von JÖRG MAGENAU

Wie schön, dass es die Kultur gibt. Kultur ist erholsam, besonders für Politiker. Wenn Kultur auf der Tagesordnung steht, dann sind Politiker gewissermaßen nur zu Besuch. Dann dürfen sie endlich einmal zugeben, dass sie keine Ahnung haben, und es schadet ihnen nichts. Gerhard Schröder tritt dann im Hemd und mit gelockerter Krawatte vors Mikrofon und sagt: „Was Sie hier sehen, ist Phase 7, ähm, ja. Genau …“

Sonntagvormittag im Garten des Kanzleramtes. Neun Tänzer vollführen seltsam zähe Bewegungen, als fühlten sie sich sehr unwohl in ihrer Haut. Das wäre auch kein Wunder. Sie stecken in einer silbrig schimmerndem Plastikhaut. Ihre von industriellem Hämmern und Wummern aus den Synthesizern begleiteten Windungen wirken, als müssten sie das Thema Stagnation zur Darstellung bringen. Lebende Plastiken: Sie treten auf der Stelle und quälen sich.

Doch dabei kann es an diesem Ort, sechs Wochen vor der Wahl, nicht bleiben. Der Kanzler sagt, er wolle deutlich machen, dass dies ein offenes Haus sei. Kultur ist Öffentlichkeit. Die Musiker von Phase 7 produzieren derweil mit großem technischem Aufwand fragwürdige Geräusche. Die Augustsonne brennt. Endlich, nach einer kleinen Ewigkeit, beginnt ein Saxofon zu spielen. Es ist eine Erlösung. Auch die Tänzer beleben sich und springen ausgelassen im Kreis herum zur finalen Optimismusdemonstration. Na also, es geht doch.

Die Raum- und Klangskulptur „strange particles evolution“ von Phase 7 performing.arts ist artgerechte, sonntagvormittagstaugliche Kanzleramtsgartenkunst: ein bisschen nervig, aber nicht wirklich schmerzhaft. Das ist wohl angemessen, wenn sich die Berliner Gesellschaft von Günter Lamprecht bis Georgia Tornow versammelt. Alle tragen helle Sommersachen, bis auf den Staatsdichter Durs Grünbein, der als die personifizierte Nacht in Schwarz erscheint. Auch Patti Smith hat sich für ein paar Minuten herbemüht, um dem Kanzler ihre Unterstützung zuzusichern. Nach ihren Konzerten ruft sie dazu auf, Schröder zu wählen, der für sie mit seiner Weigerung, am Irak-Krieg teilzunehmen, ein hoffnungsvoller Anti-Bush ist. Nun stehen die beiden am Rand der Rasenfläche, von Fotografen umringt. Patti Smith spricht, der Kanzler hört zu. Dann umarmt er sie und küsst ihre Hand: Kultur ist Politik ist Public Relations.

Strange particles. Phase 7 beschließt eine Veranstaltungsreihe, die im Januar mit der in perfekter Ost-West-Multikulti-Äquilibristik austarierten Lesung von Günter Grass, Christa Wolf und Emine Sevgi Özdamar noch sehr gediegen begonnen hatte und die seither quer durch alle Kunstsparten führte. Schröder wollte im Wahljahr seine Verbundenheit mit der Kultur demonstrieren, auch wenn er behauptet, dass das mit dem 22. September nichts zu tun habe. Immerhin liegt ein Flugblatt „Tausend Gründe für Schröder“ aus. Jeder soll sich selbst ein paar gute Gründe ausdenken und an die Tausend-Gründe-für Schröder-Initiative mailen.

In der SPD gibt es seit den Tagen der Freundschaft zwischen Willy Brandt und Heinrich Böll eine verpflichtende Tradition, die auf die Unterstützung durch Intellektuelle baut. Selbst Scharping hatte das in den Zeiten seiner Kandidatenschaft versucht und wenigstens Oskar Negt und Klaus Staeck gewonnen. Staeck ist auch im Kanzlergarten dabei. Zwar gibt es heutzutage keine Schriftstellerwahlkampfkontore mehr, die „Wählt Gerhard!“-Essays verfassen würden. Stattdessen saß Günter Grass zur Unterstützung neben dem Kanzler, als der bei Alfred Biolek zum Talk geladen war. Mit Martin Walser unterhielt Schröder sich trotz öffentlicher Proteste symbolträchtig am 8. Mai über die deutsche Geschichte, und Peter Schneider durfte, sekundiert von Hans Christoph Buch, einen Abend mit dem Kanzler auf der Bühne im Haus der Berliner Festspiele verbringen.

Brandt und Böll trafen sich einst privat zu ihren Gesprächen. Schröder inszeniert sie als öffentliche Auftritte. Er weiß, es kommt weniger darauf an, was gesprochen wird, als dass man dabei gesehen wird. Wenn Gespräche als Schauspiel auf der politischen Bühne stattfinden, wird jedoch nicht nur der Kanzler, dann werden auch die Intellektuellen zu Darstellern. Früher, in den übersichtlichen Zeiten der Bonner Republik, waren Politik und Kultur zwei voneinander getrennte Sphären: hier der Ernst des politischen Geschäfts und die Würde staatlicher Repräsentation, dort die kompromisslosen Unversöhnlichkeiten kritischer Intellektueller und die spielerischen Versuche der Avantgarde, das Unmögliche zu erproben. Erst die Unabhängigkeit der naturgemäß gesellschaftskritischen Intellektuellen machte ihre Unterstützung im Wahlkampf so wertvoll. Ohne diese entgegengesetzte Autonomie mutiert das Gespräch zur Plauderei. Dann gesteht Schröder kumpelhaft, dass er nur selten zum Lesen komme, an Sonntagen aber gerne einmal für eine halbe Stunde in Bildbänden blättere. Und Peter Schneider beteuert, was für ein vorbildlicher Demokrat aus ihm altem 68er doch noch geworden sei.

Im Kanzleramt kann man Schröder dagegen in der Rolle des Gastgebers erleben. „Ich will’s kurz machen“, sagt er zur Begrüßung, das kommt gut an. Er muss nicht viele Worte verlieren, denn die Kultur ist dazu da, dass der Bürger und also auch der Kanzler einmal Zuhörer sein dürfen. Die permanente Aktivität der Schaffenden und Gestaltenden der Bürgergesellschaft erlischt vorübergehend, wenn sie zum Publikum werden. Der Kunstkonsum ist so erquicklich, weil er Passivität erlaubt. Auch der Kanzler sitzt und schweigt geduldig. Muss er nicht regieren? Manchmal schmunzelt er ein bisschen. Er nimmt sich Zeit. Er ist gelassen. Er ist Gleichester unter Gleichen. Er zeigt sich dem Modernen gegenüber aufgeschlossen und demonstriert Interesse. Und wenn er unterdessen an die nächsten Termine im Wahlkampf denkt, an Doris oder an die Hartz-Kommission, dann merkt das ja keiner.

Im März war das Kanzleramt für einen Abend zum Theater geworden. Moritz Rinkes Stück „Republik Vineta“ wurde in szenischer Lesung uraufgeführt. Aparterweise ging es darin um den Versuch, eine neue Stadt mit einem Themenpark zu errichten, der den Titel „Die untergegangenen Träume“ trägt und mit einer gigantischen Leninskulptur aus Moskau und einer sowjetischen Rakete aus Kuba bestückt werden soll. Das Drama ereignete sich in der Vorstandsetage des federführenden Unternehmens, entpuppte sich aber gegen Ende als kalkuliertes Planspiel im Sanatorium. Die Wirtschaftsbosse und Politiker waren in Wirklichkeit heilungsbedürftige Patienten – aber was ist schon die Wirklichkeit?

So ergab sich die verwirrende Konstellation, dass das Theater zum Kanzler kam, um zu zeigen, wie aus der Politik Theater wird. Das Stück gehe „hart mit der Politik ins Gericht“, hatte der Kanzler scherzend gewarnt. Aber Kritik kann an diesem Ort keine Kritik mehr sein. Man könnte dies für die Wiederkehr der höfischen Kultur halten: Die Kunst übernimmt das Geschäft des Narren, der dem Fürsten die Wirklichkeit beschreibt und dabei so tut, als mache er nur einen Scherz. Der Fürst vergnügt sich sehr und geht anschließend zum Büfett.

Kumpelhafte Freundlichkeit, mehrheitsfähige Ressentiments

„Was Sie hier sehen, ist Phase 7, ähm, ja. Genau …“ Mit dieser Formel bringt Schröder sein Kulturverständnis auf den Punkt. Kumpelhafte Freundlichkeit ist darin ebenso enthalten wie eine Prise mehrheitsfähigen Ressentiments. Das Eingeständnis, inkompetent zu sein, vermischt sich mit der Ahnung, dass sich hinter der künstlerischen Bedeutungsproduktion vielleicht gar keine Bedeutung verbirgt.

In keinem anderen Gesellschaftsbereich wäre eine solch saloppe Ignoranz erlaubt. Nirgendwo sonst wäre es dem Kanzler möglich, unbeschwert als Laie aufzutreten und gerade damit sympathisch zu wirken. Das drückt ungefähr den Stellenwert der Kultur in der Gesellschaft aus. Ein Kanzler, der sich allzu gründlich mit künstlerischen Fragen befasste, müsste fürchten, in Sachen Wirtschaftskompetenz an Ansehen zu verlieren.

Und dennoch: Als Schröder 1998 antrat, hatte er mit Quereinsteiger Jost Stollmann nicht nur eine Wirtschaftswunderwaffe im Angebot, sondern auch ein Kulturversprechen. Aus dem angekündigten Staatsministerium für Kultur ist dann im Unterschied zum Quereinsteiger auch tatsächlich etwas geworden. Schröder schuf mit diesem Amt erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik eine zentrale Zuständigkeit für Kultur beim Bund, die Michael Naumann geschickt auszufüllen verstand. Er machte viel Wind und viele Vorschläge zur Gestaltung des Holocaust-Mahnmals, ehe er zwei Jahre später Chefredakteur der Zeit wurde – also in die Wirtschaft zurückkehrte. Sein Nachfolger Julian Nida-Rümelin interpretierte das Amt weniger spektakulär, befasste sich bodenständig mit Fragen der Filmförderung und der Rettung der defizitären Berliner Kultur: Niederungen, in die der Kanzler sich nicht begeben will.

Mit der Einführung des Kulturbeauftragten hat er sich der Kultur als Politikfeld entledigt. Von Kultur ist bei ihm seither kaum einmal die Rede gewesen. Auf den Internetseiten des Kanzleramtes (bundeskanzler.de) fehlen einschlägige Schröder-Statements. Kultur kommt da nur im Zusammenhang mit einer „verantwortungsbewussteren Unternehmenskultur“ vor, „die nicht von maßloser Raffgier gekennzeichnet“ sein soll.

Kultur wäre demnach als eine Ethik zu verstehen, als eine neue Moral des aufgeklärten Unternehmertums. Kultur in diesem Sinne würde da einsetzen, wo Politik endet. Sie wäre ein Aufruf zu freiwilliger Selbstkontrolle, wenn der Sozialstaat versagt. Sie wäre ganz klassisch für das Gute im Menschen zuständig. Das Schöne und das Wahre besorgen die Künstler, die als Narren im Kanzleramt auftreten. Dafür kann man sich dann schon mal einen Vormittag freinehmen.

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