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Was uns die Hartz-Ideen wert sind

Sie kennt sie schon alle, die vielen Kaninchen

Erst vergangenes Wochenende ist Sandra Heyder mit ihrem Freund in eine neue Wohnung gezogen, nach Berlin-Friedrichshain. Da hatten sie noch Glück, dass sie die bekommen haben: Am Tag der Vertragsunterzeichnung hat ihr ihr erster Arbeitgeber gekündigt, eine Zeitarbeitsfirma, nach nur fünf Wochen. Ihr Freund ist auch arbeitslos. Die Maklerin sei aber sehr nett gewesen, sagt die 23-jährige Europasekretärin, und sie haben die Wohnung trotzdem beziehen dürfen.

Nein, Zeitarbeit, wie es das Hartz-Konzept vorsieht, das will Sandra Heyder eigentlich nicht mehr machen. Zunächst sei das ja gut gelaufen. Doch dann wurde sie zu einer Unternehmensberatung geschickt, wo sie mit zwei anderen Frauen arbeiten sollte. Die eine sei schon nett gewesen, aber die andere, die mochte sie nicht. Und eines Tages hieß es, Sandra Heyder habe Berichte falsch getippt, Fachbegriffe vertauscht. „Massive Anschuldigungen“, sagt sie. Aber nicht die Kolleginnen oder der Chef der Unternehmensberatung teilten es ihr mit, sondern die Zeitarbeitsfirma. Klar hatte sie den Verdacht, die missliebige Kollegin könnte manipuliert haben. Aber da war es schon vorbei mit der Zeitarbeit: „Ich habe leichtfertig den Aufhebungsvertrag unterschrieben.“

So hatte sich Sandra Heyder die Berufstätigkeit nicht vorgestellt. Als sie ihre Ausbildung machte, gleich nach dem Abi in Erfurt, da hat die Direktorin der „Euroschule“ den neuen Schülerinnen gesagt, dass sie keinerlei Probleme auf dem Arbeitsmarkt haben würden: 100 Prozent des letzten Jahrgangs hätten einen Job, habe sie gesagt. Also machte sich Sandra Heyder keine Sorgen. Die Ausbildung, sagt sie, war ja auch gut – und teuer: 320 Mark pro Monat im ersten Jahr, immerhin noch durch das Bafög gefördert. Das zweite Jahr, ohne Förderung: monatlich 360 Mark. Und im letzten halben Jahr sogar 680 Mark. Als sie fertig war, hat sie gehört, dass die Direktorin den Neuen wieder erzählt hat, dass jede aus dem letzten Jahrgang einen Job habe. Dabei war es aus ihrer Klasse höchstens die Hälfte. Sandra Heyder regt sich auf: „Das kann die doch nicht sagen. Die hat doch eine Verantwortung. Die ist doch Lehrerin!“

Jetzt sucht sie Arbeit. Vielleicht hat jemand einen Job, der diesen Artikel liest, sagt sie. Einmal war sie beim Bewerbungsgespräch, wieder in einer Unternehmensberatung. Sie hat eine Ausbildung, sie kann Englisch und Spanisch in Wort und Schrift. Aber sie hat kaum Berufserfahrung, das ist ihr Problem. Der potenzielle neue Chef sei nett gewesen und habe ihr ein Praktikum angeboten und bei gegenseitigem Gefallen die Übernahme. Bis Ende der Woche wollte er sie anrufen. Sie freute sich. Und wartete. Und wartete. Und wartet nicht mehr.

Neulich war sie auf dem Arbeitsamt. Dort sollte sie auf einem zweiseitigen Papier ihre Fähigkeiten ankreuzen. Aber nicht mehr als 14. Die hatte sie schon auf der ersten Seite voll. Lassen Sie das Unwichtige weg, hat die Frau hinterm Schalter gesagt. Aber was ist denn unwichtig?

Umziehen für den Job, wie es die Hartz-Kommission fordert? Na ja, sie ist ja erst von Erfurt nach Berlin gezogen. „Wenn sich hier wirtschaftlich nichts tut, in der Hauptstadt, wo denn sonst?“, fragt sie. Sie will doch arbeiten. Na ja, wird schon klappen, irgendwie: „Ich bin guter Dinge.“

STEFAN KUZMANY

La catastrophe“, sagt Mandy Weiß an diesem Vormittag, als ob sie einen Filmtitel hersagt – doch „la catastrophe“ ist ihre Zukunft. Sie könnte die Kraftausdrücke nehmen, die das Deutsche bereithält, und Mandy Weiß wirkt nicht so, als scheute sie sich davor. Was würde das nutzen? „Zappenduster“, kommt ihr über die Lippen, derweil sie mit verschränkten Armen auf ihrer ABM-Stelle sitzt: Ein Schreibtisch, ein Computer, ein Bürostuhl, und von der Decke glänzt ein Fliegenfänger.

„La catastrophe“ beginnt in fünf Tagen, dann wird Mandy Weiß wieder arbeitslos. 365 ABM-Tage im Arbeitslosenzentrum Hohenschönhausen sind versickert, Briefe sind geschrieben, Handzettel verteilt, die Buchhaltung ist geordnet, ein anderer wird nächste Woche die „Maßnahme“ übernehmen. Ein Jahr ist vergangen. Jetzt hat sie Berufserfahrung als Bürokauffrau – der Pluspunkt. Jetzt ist sie ein Jahr älter – das Minus. Ihre zwei Kinder erwähnt sie in Bewerbungen nicht mehr, die sie die Monate über geschrieben hat. Dass sie in drei Jahren 40 wird, kann sie nicht verheimlichen.

Die bisher bekannt gewordenen Hartz-Vorschläge liegen auf dem Tisch, und wenn die Blätter sprechen könnten, würden Wörter wie Business-Unit, PersonalServiceAgentur, Benchmarks und Ich-AG jetzt durch den Raum schwirren. In dem neuen Sound klingt zwischendrin das Wort „arbeitslos“ wie Katzenjammer. „Familien-AG? Soll ich als Bürokauffrau ein Schreibbüro gründen?“ Mandy Weiß schaut auf. Als Alleinerziehende mit Tochter und Sohn Existenzgründerin werden? Sie hat Funkmechanikerin gelernt, hat Elektronikgeräte verkauft, im Getränkemarkt ausgeholfen, ein paar Monate befristet am Postschalter gestanden, sie hat Bibliothekskataloge in den Computer übertragen, sie wurde zur Bürokauffrau umgeschult, hat Computerkurse belegt, wurde als Bürokauffrau weitergebildet, sie ist von Magdeburg aufs Land gezogen und von dort nach Berlin. Es hat alles nichts genutzt. Zwölf Jahre Umschulung, Aushilfe, ABM und wieder von vorn.

Nach dem „Bündnis für Arbeit“ und der „Chefsache Ost“ heißt das neue Kaninchen Peter Hartz: mehr Zeitarbeit, schärfere Zumutbarkeitskriterien, Niedriglöhne, Selbstständigkeit. Das würde Mandy Weiß alles machen, vorausgesetzt, sie kann Miete und die anderen Ausgaben bezahlen. Bei einer Zeitarbeitsfirma war sie schon vor Jahren, dort wollte man ihr zuerst ein Bewerbungstraining aufschwatzen. „Werden die Herren von der Kommission doch erst mal arbeitslos und sollen mit dem auskommen, was ein Arbeitsloser so hat“, sagt sie. Eine Analyse ist das nicht, dafür ist sie wohl zu dicht dran. Oder schon zu weit weg. Hieße ein Vorschlag: „Im Himmel ist Jahrmarkt und dort werden dringend Bürokauffrauen gebraucht!“, würde sie das nicht wundern. Dieser Vorschlag ist etwa so realistisch wie die Hoffnung auf schnellere Vermittlung. „Hier in Berlin und Umgebung ist doch kaum etwas zu vermitteln.“ Gut möglich, dass sie bald – nein, keine Sozialhilfe, sondern semantisch aufgewertetes „Sozialgeld“ bekommt.

Vielleicht wird Mandy Weiß nach Magdeburg zurückgehen, von dort aus lässt sich leichter Arbeit finden – in Braunschweig. Ratschläge von Peter Hartz braucht sie dafür nicht. „Wenn ich gewusst hätte, was kommt, hätte ich mir das dreimal überlegt, ob ich noch ein zweites Kind haben will“, sagt sie und ist doch froh, Kinder zu haben. Die Tochter ist 15, bald wird sie Bewerbungen schreiben. Kinder werden erwachsen – und „la catastrophe“ wird vererbt.

THOMAS GERLACH

Reinhard Claußnitzer wartet auf den richtigen Moment. Er will nicht taktlos wirken, aufdringlich schon gar nicht. Manchmal geht er ans Mikrofon, nach dem Vortrag oder der Podiumsdiskussion. Manchmal wählt er ein Vieraugengespräch am Buffet oder im Foyet. Es sind immer Veranstaltungen zur Wirtschaftspolitik, und dazu gibt Claußnitzer dann seine Einschätzung ab. Er erwähnt auch, dass er einen besonderen Zugang zum Thema hat. Weil er selber Arbeit sucht.

„Man muss auf sich aufmerksam machen“, sagt der 57-jährige. Und flexibel sein. Das war er auch in der DDR schon. Obwohl er Lateinamerikawissenschaften studiert hatte, beschäftigte er sich fast 20 Jahre lang am Ostberliner „Institut für Internationale Politik und Wirtschaft“ mit Analysen der ökonomischen Lage in Westeuropa. Dazu gehörte zwangsläufig die Arbeitslosigkeit.

Nach dem Mauerfall wurde Claußnitzer Teil des Phänomens, das er jahrelang untersucht hatte. Sein Institut wurde abgewickelt. Aber seine Frau bekam eine Festanstellung, und er war zuversichtlich. „Ich dachte, das kann nicht ewig dauern.“ Eine Fehleinschätzung, wie sich herausstellte. Nach zwei ABM-Stellen und einer begrenzten Anstellung auf Honorarbasis fand Claußnitzer erst 1997 die erste feste Arbeit nach der Wende – dank seiner Methode der Kontaktaufnahme. Ein ehemaliger Staatssekretär aus der Berliner Wirtschaftsverwaltung, den er von diversen Veranstaltungen her kannte, machte eine Unternehmensberatung auf und stellte Claußnitzer als einzigen Mitarbeiter ein. Das Arbeitsamt zahlte drei Jahre lang Lohnkostenzuschüsse. Im Herbst wurde er entlassen. Die wenigen Aufträge konnte der Chef auch allein erledigen.

Er untersuchte das Phänomen. Bis er Teil davon wurde

Seitdem bewirbt er sich wieder. „Das Dumme bei Absagen ist, dass man keine Begründung bekommt“, sagt er. Ist es sein Alter? Die fehlende Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt? Er leidet darunter, nicht zeigen zu können, was er kann. Seine Arbeitslosigkeit empfindet er als „Makel“. Er erzählt, dass seine Frau manchmal auf die Frage, was ihr Mann mache, antworte: Urlaub. Notgedrungen spielt er den Hausmann und engagiert sich in der „Zivilgesellschaft“, wie er es nennt: Er begrünt den Hof des Mietshauses in Berlin-Wedding oder räumt Müll aus dem Gebüsch. Und er joggt. „Um zu zeigen, ich bin ein fitter 57-Jähriger.“

Die Ideen von Peter Hartz machen Claußnitzer wütend. „Die gehen davon aus, dass es genug Arbeitsplätze gibt und man nur Druck machen muss, dass die Arbeitslosen sich bewegen“, schimpft er. „Ich mache mir doch selber Druck!“

Er reagiert doch auf Ausschreibungen in anderen Städten. Er bewirbt sich doch auch, wenn er überqualifiziert ist. Als Arbeitsvermittler zum Beispiel. „Da kenne ich mich aus“, sagt er und grinst.

Bisher scheiterten die Versuche, unter seiner Qualifikation zu arbeiten. Als er sich beim Bundesarbeitsministerium bewerben wollte, sagte man ihm, dass Fachhochschulabschluss erforderlich sei. Mit seinem Uniabschluss war er draußen. Nun wartet er auf Antwort von der Stiftung Wissenschaft und Politik. „Ich glaube fest daran, dass es klappen könnte“, erklärt er. „Anders kann man nicht rangehen.“

BARBARA BOLLWAHN DE PAEZ CASANOVA

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