: Alle zeigen auf den Bürgermeister
Hätte man im Rathaus von Döbeln die Warnung ernst genommen, wäre den Einwohnern Zeit geblieben, Wichtiges in Sicherheit zu bringen
aus Döbeln MICHAEL BARTSCH
Mit dem Slogan „Nach Döbeln stiefeln“ wirbt ein Prospekt zum „Tag der Sachsen 2002“. Als er gedruckt wurde, waren mit Sicherheit nicht die Gummistiefel gemeint, in die bei seinem Besuch am Samstag sogar der Bundespräsident steigen musste. Auch hat die gleißende Augustsonne in Döbeln die Berge von Schlamm noch nicht getrocknet, gegen die Bagger ebenso ankämpfen wie Bürger und Helfer mit ihren Schaufeln.
In drei Wochen sollte in Döbeln das größte Volksfest Sachsens stattfinden. Der 23.000-Einwohner-Ort hatte aus diesem Anlass noch einmal nachgelegt. Stadtinformation, Post und kommunales Stadtbad waren in den letzten Monaten modernisiert worden. Im Zentrum war kaum noch ein unsaniertes Haus zu finden. Das Werbefaltblatt zeigt freundliche Bürgerhäuser am Ufer einer friedlichen Freiberger Mulde, die hier den Stadtkern in zwei Armen umschließt.
Doch just während einer Sitzung des Organisationskomitees zum Tag der Sachsen verwüstete die Mulde am Montagabend ohne Vorwarnung mit einer meterhohen Flutwelle die Innenstadt. Seit Mittwoch ist Döbeln überhaupt wieder begehbar. „Schaufel in die Hand und mitschippen!“, rufen einige junge Männer in der Gabelsberger Straße dem Journalistenpulk um Bundespräsident Rau und den sächsischen Ministerpräsidenten Milbradt (CDU) nach. Nein, sie hätten nichts gegen die Medien, erklären sie, im Gegenteil: Endlich würde einmal nicht nur über bedrohte Dresdner Kunstschätze berichtet. Und auch nichts gegen den Besuch des Staatsoberhaupts, wenn er denn wenigstens mittelbar helfende Wirkung zeitige.
Aber sie haben hier schon zu viele auswärtige Gaffer „in weißen Socken“ durchlatschen sehen. Und darauf reagieren sie allergisch, denn in diesen Tagen gibt es in Döbeln keinen Müßiggänger. Im Gegenteil, in der Schlange an einer der Feldküchen finden sich auch „Westverwandte“, die Urlaub genommen haben und spontan angereist sind. Auch Ausländer, auch Türken aus Thüringen, die nicht nur ihren Landsleuten helfen, sondern sich dem Gastland verpflichtet fühlen. Sie korrigieren den Eindruck, den nach Berichten mehrerer Augenzeugen „plündernde Ausländer“ aus dem oberhalb der Stadt gelegenen Asylbewerberheim hinterlassen haben.
Auf einem mehrere hundert Meter breiten Streifen ist bis Deckenhöhe Erdgeschoss nichts verschont geblieben. Getroffen hat es neben Bewohnern vor allem etwa 300 Gewerbetreibende und Hauseigentümer. Zum Beispiel den 72-jährigen Günter Raschke, der sein zu DDR-Zeiten enteignetes früheres Wiener Kaffeehaus am Obermarkt 1991 wieder erhielt und sich für die Sanierung mit 800.000 Mark verschuldete. Von dem Schlecker-Markt, der inzwischen dort eingerichtet wurde, ist nur eine kahle, stinkende Halle mit aufgerissenem Fußboden geblieben. Den Strick könne er sich nehmen, sagt der Mann unter Tränen. Im unweit gelegenen Kaiser’s-Lebensmittelmarkt stehen noch zahlreiche Körbe voll Waren, die mit einem einheitlichen Schlammgrau überzogen sind. „Für die Versicherung“, erklärt eine Mitarbeiterin.
Auch Thomas Arnold hat für sein Küchen-Elektro-Geschäft einen Millionenkredit „am Arsch“. Viel hätte nicht gefehlt, und es wäre seiner Frau ergangen wie dem Mann, den sie als Toten vorbeischwimmen sahen. In letzter Minute habe er sie schwimmend vor dem Ertrinken retten können, nachdem die große Ladenfensterscheibe eingedrückt worden war. Die Erleichterung über das gerettete Leben ist der deprimierenden Klarheit über seine aussichtslose Situation gewichen. Denn Thomas Arnold hat nichts von einem möglichen neuen Kredit, und sei er noch so zinsgünstig. Helfen kann ihm einzig eine unbürokratische, an keine Rückforderung gekoppelte Geldspritze. Ein KfW-Sonderkreditprogramm sei Unfug, sagt er. In diesem Sinne äußert sich auch ein Forderungspapier der Gewerbetreibenden, das sie Bundespräsident Rau überreichten.
Berichte lachend ignoriert
Auch Werner Busch ist gerade so mit dem Leben davongekommen, weil er sich mit seinem Sohn an einen Laternenpfahl klammerte und gerettet werden konnte. Zuvor hatte er mit einem Kinderschlauchboot und Stricken noch andere Anwohner bergen können. Drei der sechs von ihm betriebenen „Monsator“-Hausgerätefilialen in Sachsen sind geflutet, darunter auch eine im 20 Kilometer entfernten Meißen.
Hoch her ging es Freitagabend auf einer Versammlung der Gewerbetreibenden im Rathaus. Nicht nur Händler, Gastronomen und Kleinbetriebe sind wütend über das Ausbleiben einer Warnung vor der absehbaren Flut. Während im benachbarten Waldheim der Bürgermeister am Montag persönlich durch die Straßen fuhr, habe Döbelns Bürgermeister Axel Puschmann (SPD) noch am späten Nachmittag Berichte über steigendes Kellerwasser lachend ignoriert, berichten Einwohner. Landrat Manfred Graez (CDU) hingegen erklärt auf Anfrage, er habe spätestens um die Mittagszeit die von den Landesbehörden in Chemnitz eingegangene Katastrophenwarnung an alle Kommunen weitergereicht. Die Dimensionen habe allerdings niemand voraussehen können.
Mindestens drei oder vier Stunden wären zur Sicherung von Leben, von Dokumenten und Gütern geblieben, hätte man im Rathaus die Warnung ernst genommen und die Bürger informiert. Darin sind sich alle Betroffenen einig. Wer die Verantwortung trägt, ist allerdings umstritten. Monsator-Vertreter Werner Busch, zugleich Kreistagsabgeordneter der PDS, bezichtigt den Landrat. Die meisten aber zeigen auf den Bürgermeister, der beim Besuch des Bundespräsidenten gar nicht zu sehen war. Landrat Graez nimmt den noch jungen Kommunalpolitiker von der Konkurrenzpartei in Schutz. Er tue ihm Leid. Auch auf ihn habe man sich „eingeschossen“, aber die Dinge würden sich klären. Dieter Köhler, dem freiwillige Helfer gerade einen halben Meter Schlamm aus dem Hof geschippt haben, sieht indes gewaltige Haftpflichtforderungen wegen der unterlassenen Warnung auf die Stadt zukommen.
Preistreiberei im „Marktkauf“
Auf den Straßen türmen sich inzwischen Berge unbrauchbaren Hausrats. Ein Haus an einer Baulücke hat dem ungeheuren Strömungsdruck nicht standgehalten und ist eingestürzt. Pumpen rattern, Bagger und Kipper machen Straßen wieder passierbar. In jeder Erdgeschosswohnung bietet sich das gleiche Bild: kahle Wände mit aufgeweichten Tapeten. Im Theater trocknen Schülerinnen des Lessing-Gymnasiums Noten und Textarchiv. Intendant Ingolf Huhn will unbedingt einen notdürftigen Spielbetrieb in dem ohnehin gerade in Sanierung befindlichen Haus anbieten. „Die Döbelner brauchen vielleicht heute kein Theater, aber in drei Wochen werden sie es brauchen“, meint Huhn. Vor dem Haus ist eine Tafel mit einer SED-Parteitagslosung Walter Ulbrichts aufgestellt, die man irgendwo im schwimmenden Fundus entdeckt hat.
Dieser Galgenhumor ist kein Einzelfall in Döbeln. Sogar bei denen, die alles verloren haben. Die solidarische Hilfe, die jeder von teils völlig unbekannten Menschen erfährt, trägt dazu bei. Zwei CDU-Landtagsabgeordnete sind sich für Hilfsarbeiten ebenfalls nicht zu schade. Ein türkischer Imbiss bietet Wurst vom Grill auf der Straße für einen Euro. Um so mehr Empörung herrscht über die Preistreiberei im trockenen „Marktkauf“ oberhalb der Stadt. Um mehr als die Hälfte haben sich dort die Preise für Gummistiefel und Schneeschieber erhöht. Zynisch wirken die am Ortseingang aufgestellten Werbetafeln für Sonderkredite und Rabatte für die Transportervermietung.
Wer aber soll die Schäden bezahlen? Ein Döbelner, der sich als ehemaliger Volksarmist zu erkennen gibt, verlangt von Johannes Rau ein Einwirken auf den US-Präsidenten George W. Bush. Der solle die 20 Milliarden für das Irak-Abenteuer nach Ostdeutschland umlenken. Und überhaupt: In der militärisch durchorganisierten DDR wäre es in Döbeln nur halb so schlimm gekommen.
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