Die ganz krasse Wirklichkeit

Was man immer schon über die Yakuza oder Schuluniformen wissen wollte: Christoph Neumanns Alltagsreportagen waren in Japan ein Erfolg. Bei uns tragen sie den Titel „Darum nerven Japaner“

Oft kann es sehr produktiv sein, als Fremder über eine andere Kultur zu schreiben. Der Fremde sieht oft mehr, mag er auch nicht alles verstehen. Gute Alltagsethnologien und -reportagen bewegen sich in diesem Spannungsfeld von partiellem Nichtverstehen und Vieles-besser-Erkennen. Eine grundsätzliche Sympathie für die Kultur, über die man schreibt, und ein Bewusstsein von der Begrenztheit des eigenen Verständnisses sollte dabei eine Selbstverständlichkeit sein.

In dem Vorwort zu seinem Büchlein „Darum nerven Japaner“ schreibt der seit 1995 in Japan lebende Christoph Neumann, 35, von dem „Weichzeichner der Toleranz“, den Europäer aufsetzen, wenn sie über Japan berichten. Eine sozusagen politisch korrekt gefärbte Brille, die verhindere, die japanische Wirklichkeit in all ihrer Krassheit korrekt wahrzunehmen.

Neumann, der als Softwareentwickler für maschinelle Übersetzungssysteme und freier Journalist arbeitet, will es nun anders machen und über die „Erlebnisse, Phänomene und Beobachtungen“ berichten, die ihn und seine nichtjapanischen Bekannten „schockiert, gefrustet oder einfach sprachlos gemacht haben“.

Darin hat Neumann Übung, schließlich ist er regelmäßiger Gast in Takeshi Kitanos Fernsehsendung „Die spinnen, die Japaner“. In der äußerst populären Sendung des hierzulande vor allem als Filmregisseur bekannten Kitano erzählen in Japan lebende Ausländer, was sie über verschiedenen Aspekte des japanischen Alltags denken. „Darum nerven Japaner“ ist sozusagen eine Fortführung der Sendung, erschien zunächst in Japan und verkaufte sich dort gut.

In Deutschland, wo die Leser nicht so vertraut mit dem japanischen Alltag sind, bekommt das Buch eine andere Note. War es in Japan eine satirische Kritik der herrschenden Alltagsverhältnisse aus Sicht einer Minderheitsposition, so steht die Kritik in Deutschland auf der Seite der herrschenden kulturellen Normen, also auf der Seite der Macht: Dem japanischen Irrsinn stellt sie die europäische Vernunft gegenüber.

Das macht die Lektüre dieses Buches – etwa im Gegensatz zu dem schönen Buch „Tokyo Tango“ des ehemaligen FAZ-Japankorrespondenten Uwe Schmitt –oft etwas unangenehm. Was für Japaner oder in Japan lebende Europäer lustig sein mag, wirkt hierzulande wie eine arrogante Denunziation, der man als interessierter Japanlaie wenig entgegensetzen kann und die teilweise auch nur krasse Geschichten kolportiert. In einer Passage geht es etwa um die ständig überfüllten U-Bahnen, die zuweilen wegen Selbstmördern stehen bleiben: „Ein paar Tage lang hatten die Beamten der Bahnhofsverwaltung von Shinjuku angeblich sogar die Chuzpe, ein Schild an die Gleise zu stellen: ‚Bitte nicht zur Hauptverkehrszeit springen‘.“Angeblich!

Des Weiteren wird in ungebrochener Meinungsfreude beschrieben und verurteilt, was zu erwarten war. Es geht also um die Yakuza, um die Angepasstheit der Japaner, die nichts so sehr fürchten, wie als Außenseiter zu gelten, um Schuluniformen, mächtige Firmen (Mitsubishi stellt auch Milch her!), superhohe Absätze, komisches Essen, sexuelle Freizügigkeit, japanische Reisegruppen, die sich nur für Modegeschäfte interessieren, und natürlich die komplizierten Regeln des Sich-die Schuhe-Ausziehens. Dabei wäre es viel kritikwürdiger, dass man in Deutschland viel zu oft auf das Schuheausziehen verzichtet.

Vieles wird über die beliebte Schiene von „echt“ und „unecht“ oder „künstlich“ kritisiert: Im Gegensatz zu den Europäern können sich die verkrampften Japaner nicht wirklich amüsieren und tun deshalb so als ob usw. Zwar erfährt man als interessierter Japanlaie auch einiges Neues, aber die Vermischung von Klischee, Beobachtung und Kritik, die pauschale Rede von „den Japanern“ nervt doch sehr. Diesem Blick, dem jede Beobachtung nur Mittel ist zur Bestätigung eines schon vorher gefassten Urteils, traut man nicht.

Einiges sieht man auch anders. Ich fände es zum Beispiel eher charmant, wenn bei uns wie in Japan auf der Straße große Transparente hingen mit der Parole: „Lasst uns damit aufhören, Müll einfach auf die Straße zu schmeißen!“ DETLEF KUHLBRODT

Christoph Neumann: „Darum nerven Japaner“. Eichborn, Frankfurt/Main 2002, 157 Seiten, 12,95 €