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Theater auf dem Bahnhof Europa

von HEIKE HAARHOFFund KATRIN THOMA (FOTOS)

Liberec, Tschechien. Mit fünf kam sie her, mit der Mutti, die ihr Geschwisterchen in der Karre schob und mit dem nächsten schwanger war, mit einem Koffer und mit einer Sprache, wegen der sie angepöbelt oder aus der Straßenbahn geworfen wurde. Deutschland hatte gerade den Krieg verloren. Der Vati, sagt sie, war enttäuscht, wie gemein seine Landsleute zur Mutti waren, wie sie sie als deutsche Schlampe beschimpften, anstatt ihr mal mit dem Kinderwagen zu helfen.

Die Mutter hatte sich 1940 in einer Fabrik in Leipzig verliebt. Dorthin hatten die Nazis den Vater gezwungen, und die Mutter hatte gesagt: Wenn der Tscheche für die Deutschen arbeiten kann, dann kann er auch eine deutsche Frau heiraten. Die Nazis haben ihr deswegen den Kopf gemessen und gesagt, dass sie gar keine richtige Deutsche sei, wenn sie es weiterhin mit dem Tschechen treibe.

Geschichten von Vertreibung

Aber sie blieb stur, und als der Krieg dann endlich aus war, hat sie geglaubt, in Liberec, wo ihr Mann herkam und das damals noch Reichenberg hieß, da wäre es vorbei mit dem Spießrutenlaufen für sie und die Kinder. „Dieser Glaube war naiv.“ Annerose Chaloupková sitzt am Bahnhof von Liberec, wo sie vor 56 Jahren als fünfjähriges Mädchen aus Leipzig ankam. „Die Tschechen haben uns gehasst, so wie die Deutschen vorher die Tschechen gehasst haben.“

Ihr Deutsch hat einen leichten Akzent angenommen und sie die tschechische Staatsangehörigkeit. Aber nicht deswegen sitzt sie an diesem sonnigen Augusttag auf dem überdachten Bahnhofsplatz auf einem bequemen Sofa: Vor ihr auf einer gerade aufgebauten Bühne treffen 60 gut gelaunte Menschen, die jüngsten 16, die ältesten 25 Jahre alt, letzte Vorbereitungen für Theaterstücke, Konzerte, Filme, die sie hier gleich zeigen werden. Das Motto: Bahnhof Europa. Die Themen: Begegnungen von Menschen im Dreiländereck. Die Arbeitssprachen: Tschechisch, Deutsch, Polnisch, und, wenn gar nichts mehr geht, nun ja, Englisch.

Die Geschichten auf dem Bahnsteig handeln von Vorurteilen diesseits und jenseits der Grenzen, von Umsiedlung, Vertreibung, Abschottung. Aber auch von Hoffnungen auf eine neue, eine bessere Nachbarschaft: wenn die Europäische Union im übernächsten Jahr nach Osten wächst und die Grenzen zwischen Tschechien, Deutschland und Polen fallen werden.

Annerose Chaloupková reckt den Rücken ein wenig, streicht ihren Pullover mit dem Tigermuster glatt, schlägt die Beine übereinander. Ihr soll nichts entgehen. Schon vor Wochen hat sie auf Plakaten gelesen, dass die trinationale Jugendgruppe, die sich auf Workshops im „Begegnungszentrum im Dreieck e.V.“ im sächsischen Großhennersdorf zusammengefunden hat, zehn Tage lang in einem Sonderzug durch die Grenzregion reisen wird, dabei bis kommenden Sonntag noch in Kamiena Góra, Wrocław, Prag, Dresden und Zittau weilen und mit ihrem kulturellen Programm auch in Liberec Station machen wird. Ihre Enkeltochter hat sie extra mitgebracht, siebzehneinhalb ist die und sitzt nun schweigend neben ihrer Großmutter. „Ich möchte, dass sie etwas erfährt von der Welt.“

Auf der Bühne geht der Soundcheck nur mäßig voran. Annerose Chaloupková blickt auf die Uhr, sie ist schon seit halb zwölf hier, seit der Zug angekommen ist. Jetzt ist es bald halb zwei, und viel ist nicht passiert. Sie hat noch einen anderen Termin am Nachmittag, sie wird bestenfalls noch die Anfänge des ersten Konzerts mitbekommen, nicht aber das Theaterstück „Romeo und Julia auf dem Bahnhof“, in dem ein binationales Liebespaar fliehen muss, weil plötzlich der Bahnhof geteilt wird, der ihre Herkunftsländer bislang miteinander verband. Auch nicht sehen wird sie den Dokumentarfilm „bordercrosser“, in dem alte Menschen aus der Grenzregion den Jugendlichen ihre Flucht- und Nachkriegsschicksale schildern. Und nicht einmal ihre eigene Geschichte kann Annerose Chaloupková der Truppe erzählen, weil die so mit sich selbst beschäftigt ist.

Enttäuscht ist sie trotzdem nicht. „Gucken Sie sich an, wie toll diese jungen Leute Hand in Hand arbeiten. Sie machen Dinge, die für meine Generation nie in Frage gekommen wären, sie stehen da fröhlich nebeneinander, als sei es die normalste Sache der Welt.“ Bevor sie geht, sagt sie: „Ich wünschte, solche Projekte gäbe es auch für ältere Leute.“

Nächster Halt: Görlitz, Deutschland. Martin Taszycki hat die Faxen dicke. Dass es im Zug keine Dusche gibt, das hat er vorher gewusst. Dass die Dreierkabinen ein bisschen eng und die Betten nicht eben lang sind, auch damit lässt sich leben. Langwierige Grenzkontrollen in einem Sonderzug, der seit Wochen samt akribisch geführten Mitfahrerlisten angekündigt ist – geschenkt. Und selbst die Blumenhändlerin auf dem Bahnsteig in Görlitz erträgt er, die auf „Chaoten“ wie ihn schimpft, die trommelnd und tanzend den Bahnhof erobern und ihr „mit dem Lärm das Geschäft kaputt machen“.

Aber dass es in der Bahnhofshalle von Görlitz hallt wie der Teufel, dass auf der Bühne nichts mehr klingt wie geprobt, obwohl die Technik ihr Bestes gibt, das macht dem 24-jährigen Elektriker aus Polen zu schaffen. „Zwei Jahre Arbeit haben wir in dieses Projekt gesteckt“, sagt Martin Taszycki. 375.000 Euro öffentliche und private Fördermittel sind für die zehntägige Bahnfahrt geflossen. Und nun hört das Publikum nicht einmal zu.

Vielleicht liegt es ja auch am Programm. „Talk mit Kommunalpolitikern“ ist angekündigt, und es gäbe viel zu erzählen über die „Europastadt“ Görlitz beziehungsweise Zgorzelec, die 40 Jahre lang geteilt war und deren Einwohner noch heute unterschiedliche Pässe haben, je nachdem, ob sie in den Stadtteilen westlich oder östlich der Neiße leben. Aber weil der Sonderzug mit einer kleinen Verspätung eintraf, hat sich der polnische Stadtvertreter entschuldigen lassen, und auch Ulf Grossmann, Kulturbürgermeister von Görlitz, wirkt nicht so, als gehe es hier um sein Leib- und Magenthema, wie er so da sitzt auf der Bühne und städtische Haushaltstitel für Jugendarbeit aufzählt und immer wieder betont, diese Mittel seien „nicht üppig“, so als habe er selbst schon die Hoffnung für die Jugend in Görlitz aufgegeben.

„Unsere Kinder ziehen weg“

Fünf Jugendliche, zwei Mitarbeiter des Zug-Teams und drei Gäste, von denen zwei unablässig Kurzmitteilungen via Handy verschicken, hören noch zu, als der Kulturbürgermeister der Neiße-Stadt sagt: „Das Problem von Görlitz ist doch nicht das Freizeitangebot. Es ist der Arbeitsmarkt, es ist die Lehrstellensituation. Unsere Kinder ziehen weg: nach Bayern und Baden-Württemberg.“

Die tschechischen, deutschen und polnischen Jugendlichen vom „Bahnhof Europa“ setzen sich täglich auseinander mit dem, was in der Fachsprache „Strukturschwäche“ heißt und in der Praxis die neue Grenze darstellt, gegen die die Generation von heute in der Region zu kämpfen hat.

Viele ihrer Altersgenossen, mit denen sie sich seit Jahren während internationaler Foto-, Video- oder Theaterworkshops im Begegnungszentrum im sächsischen Großhennersdorf angefreundet und schließlich das Projekt „Sonderzug“ vorbereitet haben, fahren in dieser Woche nicht mit. Nach dem Abi sind sie weggegangen aus der Region – für eine Lehrstelle, für einen Job. Selbst zum Studieren zieht es vor allem deutsche Jugendliche aus der Grenzregion weiter weg als nötig. Denn was hat man von Universitäten um die Ecke in Wrocław oder Prag, wenn an deutschen Schulen im Dreiländereck immer noch kaum Polnisch und Tschechisch gelehrt wird?

„Ist so Europa?“

Dass Martin Taszycki mit 24 Jahren noch da ist, wirkt da wie ein kleines Wunder. Aber Martin Taszycki hat auch eine feste Stelle, im Elektrizitätswerk von Görlitz’ Nachbarstadt Zgorzelec. „Ich musste schon vor einem Jahr Urlaub nehmen, um mit dem Zug mitfahren zu können.“ Dass er alles tun wird, um auch künftig in Zgorzelec zu bleiben, steht für ihn fest. „Ich habe noch so viel zu tun. Görlitz ist nur ein paar Meter entfernt, und trotzdem kennen viele Zgorzelecer die Görlitzer nur vom Zigarettenkaufen an der Grenze.“

Nächster Halt: Jelenia Góra, Polen. Trillerpfeifen, Trommelwirbel, Perücken und Gewänder, schriller als im Theater, und Menschen, Menschen, Menschen. Lärmend quellen sie aus dem Zug, belagern Bahnsteig, Treppe, Bahnhofshalle. Jerzy Rydecki blinzelt. Bei Gott, er hat viel gesehen! 48 Jahre ist er alt, mehr als die Hälfte davon war er Soldat, Soldat in der polnischen Armee, vor drei Jahren dann der Wechsel zum privaten Sicherheitsdienst.

Jerzy Rydecki weiß, was ein Spektakel ist. Aber das hier, sagt er, übertrifft alles. In Nullkommanix ist der Bahnhof dicht. Und die Reisenden, die Fahrkartenverkäufer, die Kioskbesitzer? Sie klatschen, sie jubeln, sie johlen. So etwas hat der Bahnhof von Jelenia Góra, 90.000 Einwohner, Hauptstadt Niederschlesiens, noch nicht erlebt. Früher wäre man für so was ins Gefängnis gekommen! Jerzy Rydecki hat Mühe, seine Sprache wiederzufinden. „Ist so Europa?“

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