: „Familien bilden ein komplexes Geflecht“
Beklemmende Sommerstarre am Pool: Ein Gespräch mit der argentinischen Filmemacherin Lucrecia Martel über ihren Film „La Ciénaga – Morast“, über das unausgesprochene Begehren in der Familie, die Realitätswahrnehmung von Kindern und die bedrohliche Unbestimmtheit von Haustieren
Interview CRISTINA NORD
taz: Frau Martel, Ihr Film „La Ciénaga“ spielt zur Zeit der Ferien und in großer Hitze: Eine Familie dämmert in einem Zustand, der eher an Sommerstarre denn an Sommerfrische denken lässt. Wie haben Sie den verstörenden Effekt in dieses Setting gebracht?
Lucrecia Martel: So, wie die Geschichte beschaffen ist, hatte es wenig Sinn, sie nach einem klassischen Erzählmuster ablaufen zu lassen. Wenn es eine Landkarte gibt, eine Struktur, einen Plot, hat man keine Angst, denn man findet sich zurecht. Aber sobald diese Orientierungspunkte fehlen, ist die Beklemmung groß. Hinzu kommt, dass wir keine Musik verwendet haben. Normalerweise weiß man, was geschehen wird, sobald die Musik einsetzt. Anhand der Melodie lässt sich bestimmen, ob es etwas Positives oder etwas Negatives ist. Sobald dies ausfällt, ist man als Zuschauer dem, was den Figuren widerfährt, stärker ausgesetzt. Ein weiteres Mittel war, auf Übergangsszenen zu verzichten und die Sequenzen so zu schneiden, dass sie vor ihrem eigentlichen Ausgang aufhörten.
Das hinterlässt einen starken Eindruck.
Es gibt eine bestimmte Art und Weise, wie Filme sich innerhalb der Zeit, die man im Kino verbringt, entwickeln. Das korrespondiert mit der Atmung. Wenn dabei etwas unterbrochen wird, ist das auf einer körperlichen Ebene beklemmend. Für mich ist es zum Beispiel so, dass ich manchmal, wenn eine Figur viel unter Wasser gefilmt wird, aus der Vorführung gehen muss, weil ich es nicht aushalte. Ich warte so sehr darauf, dass die Figur atmet. Im Verlauf von „La Ciénaga“ geschieht etwas ähnliches: Man wartet so sehr auf etwas, was dann nicht geschieht, dass es sich als eine Last anhäuft.
Dass die Sequenzen durch den frühen Schnitt entstellt sind, korrespondiert mit den vielen Verletzungen und Narben der Figuren …
Es gibt in der antiken Medizin, unter anderem bei Hippokrates, die Vorstellung, dass alles, was dem Körper geschieht, direkt mit dem Seelenzustand eines Menschen verbunden ist. In unserer Kultur ist das eine verbreitete Vorstellung, auch wenn die katholische Kirche versucht hat, das, was dem Körper widerfährt, als Strafe zu werten, die dazu dient, die Seele zu läutern. Ich teile eher die griechische Vorstellung. Wenn es einem Menschen schlecht geht, verletzt er sich leichter, stürzt er öfter.
Welche Rolle spielen die Tiere in „La Ciénaga“?
Was mir an Tieren gefällt, ist ihre Unbestimmtheit: Es gibt Tiere, die als freundlich und gut gelten, die aber zugleich wild werden können, bedrohlich. Man lässt ein Tier in sein Haus. Aber man weiß im Grunde genommen nie, wie es reagiert.
So wie die Hunde, welche die Kinder begleiten, bald im Hof des Nachbarn wüten?
Ja, und daher rührt auch die Geschichte, die sich die Kinder am Pool erzählen, von dem Hündchen, das von einer Frau aufgelesen und versorgt wird …
Und sich als Untier mit vielen Zahnreihen entpuppt, afrikanische Ratte genannt …
Das ist eine Art urbaner Legende: Man erzählt sie in Brasilien, Argentinien und Italien. Was mich daran interessiert, ist, dass es um eine Grundangst des Menschen geht: Man ist unfähig, das Wesen der Dinge zu bestimmen.
Im Film gibt es dazu einen etwa sechs Jahre alten Jungen, Luciano, dem ein Zahn hinter den Schneidezähnen wächst.
Die Sicht, die Kinder von der Wirklichkeit entwickeln, kann etwas ganz Monströses haben. Der Junge weiß nicht, ob er sich in etwas Schreckliches, Wildes verwandeln wird. Das hat mir gefallen: In seiner Vorstellung ist es absolut möglich, dass sein Körper sich in ein Tier verwandelt.
Die Familie in Ihrem Film wirkt dysfunktional. Warum?
Die menschliche Natur ist sehr komplex. Gängige Vorstellungen von Familienstruktur können dieser Komplexität nicht gerecht werden. Beziehungen sind viel komplizierter, als es sozial festgelegt ist. So und so sieht die Vaterrolle aus, so und so die des Sohnes oder der Tochter – das ist Unsinn. Man sieht darin eher eine bestimmte Vorstellung von Familie als das, was Familie wirklich ist: ein Haufen Leute mit vielfältigen Beziehungen, innerhalb derer auch das Begehren komplex ist. Es gehört ja zur Durchschnittsmoral dazu, dass sie sich der Vorstellung von Begehren innerhalb der Familie verweigert. Für mich wiederum zeichnet gerade dies die Familie aus: dass es ein Begehren gibt. Was natürlich nicht heißen muss, dass die Tochter mit dem Vater schläft.
In „La Ciénaga“ kommt der 20 Jahre alte José sowohl seiner Schwester Vero als auch seiner Mutter Mecha nahe.
Ja. Die Familie ist als Schauplatz sehr intensiv, allein schon, weil sie so viele unterschiedliche Altersgruppen versammelt. Das ist ein sehr ergiebiges Terrain.
Welche Rolle spielt Bolivien?
Bolivien ist ein Fluchtpunkt. In der Region, in der „La Ciénaga“ angesiedelt ist, war es unter den Frauen aus der Mittelschicht üblich, ab und zu nach Bolivien zu reisen, aber nur bis zur Grenze, um dort einzukaufen. Die Frauen kauften alle dieselben Marken, aber eben gefälschte Marken: Zum Beispiel gefälschten Christian Dior. Etwas, was der Mittelschicht stark zu Eigen ist: dass man eine Illusion aufrechterhält, einen falschen Status, mit falschen Markenprodukten. So blöd und dumm dieser Vorsatz war, so hatten diese Reisen doch auch etwas von Befreiung und Abenteuer.
Vermutlich gibt es viele Lesarten, die „La Ciénaga“ mit der spezifischen Situation Argentiniens in Verbindung bringen, vor allem jetzt, nach dem Bankrott, aber auch im Hinblick auf die Militärdikatatur. Stören Sie solche Interpretationen?
Es gibt eine Tendenz besonders dem lateinamerikanischen Kino gegenüber, alles als Metapher zu begreifen. Aber dieser Film ist keine Metapher, er geht auf meine Erfahrungen zurück.
Die Vorstellung von Metapher ist außerdem in der Regel sehr oberflächlich, insofern als sie einfach alles zu übersetzen versucht. Dann stünde zum Beispiel die dysfunktionale Familie des Films für die Dyfunktionalität Argentinien.
Aber das ist eine unaufrichtige Haltung: Warum sollte ich die Dinge über den Umweg, über die Verdrehung erzählen, wenn ich sie auch direkt äußern kann?
Wenn schon Metapher, dann im klassischen Sinne des Wortes: dass es etwas ist, das zu einer anderen Sache bringt, dass eine Erfahrung zu einer neuen Ebene von Denken führt.
„La Ciénaga – Morast“, Regie: Lucrecia Martel. Mit Graciela Borges, Mercedes Moran, Juan Cruz Bordeu u. a. Argentinien/Spanien 2001, 102 Min.
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