: Vor einem Jahrzehnt:
Nach monatelangem Tauziehen von Bund und Berlin war es am 25. August 1992 so weit. Bundeskanzler Helmut Kohl und Berlins Regierender Bürgermeister Eberhard Diepgen unterschrieben den Hauptstadtvertrag. Was denken die Deutschen heute über ihre neue Hauptstadt?
von CHRISTIAN TOPP
Ich bin aufgewachsen in der kleinsten Großstadt der DDR, knapp anderthalb Trabant-Stunden südlich des wichtigsten Orts meiner Sehnsucht: Berlin, Hauptstadt der größten DDR der Welt. Es muss die (Ost-)Berliner Luft gewesen sein, die mich schon in frühen Jahren süchtig gemacht hat – dieser geteilte Himmel.
Spätestens auf Höhe des Torsos der Oberbaumbrücke fiel er mir auf den Kopf. Dann hörte ich das gebrochene Herz der Stadt schlagen: paar hundert Meter grau-grauer Mauer und gleich dahinter eine Ahnung von Kreuzberg, die ich einfach links liegen ließ.
Beinahe jeder Streifzug durch Friedrichshain, Prenzlauer Berg oder Mitte endete damals an dem schlichten Plattenbau, dessen Notwendigkeit als antifaschistischer Schutzwall wohl nur Feinde der ersten sozialistischen Republik auf deutschem Boden in Frage stellen konnten. Hier wurde ich mit einiger Sicherheit von unauffälligen Herren mittleren Alters oder grünen Uniformen angesprochen: „Ihr Personaldokument bitte! Was machen Sie hier?“ Die hatten ihren Lenin gelesen: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Ich weiß nicht mehr, wie oft meine Personalien überprüft wurden, wie oft ich unruhig wurde, ob in den Unterlagen der „Sicherheitsorgane“ nicht doch ein schwerwiegender Zweifel an meinen Absichten formuliert war. Und gleichzeitig die Genugtuung, wenn sie mich grußlos wieder gehen ließen.
Ich bin immer wiedergekommen, auch wenn sich schon seit langem keiner mehr für meine „Personalien“ interessiert. Das mag an der Berliner Luft liegen. Die hat sich verändert wie ich auch: Ich geh jetzt bei Rot über Ampeln, parke im Halteverbot und bleibe sitzen, wenn ein gebrechlicher Alter in die überfüllte U-Bahn steigt. Die neue alte Hauptstadt kümmert das nicht. Sie lässt mich in Ruhe. Nicht mal die Uniformen rund ums Kanzleramt wollen wissen, was ich hier zu suchen habe.
Ja, was eigentlich habe ich hier noch zu suchen? Bunt sind schon die Häuser, zumindest die meisten – adrett saniert und zugeschmiert. Kaum eine Fassade erzählt noch vom Straßenkampf um Berlin. Wo sich früher studieren ließ, welche Vielfalt selbst das Grau entwickeln kann, wird heute die gesamte RAL-Farbpalette ausgestellt. Berlin ist eine ganz normale, langweilige deutsche Stadt geworden. Münchner Vorstadtkinder ziehen in die (noch) angesagten Viertel des Ostens. Mit ihrer zähen Langeweile arbeiten sie daran, Friedrichshain in Haidhausen, Prenzlauer Berg in Schwabing zu verwandeln. Und weil sie auf nichts Vertrautes verzichten können, topfen sie gleich noch die folkloristischen Politiker ihrer Heimat in den märkischen Sand um. Auf kargem Boden gedeihen die besonders gut – galten sie doch immer schon als recht anspruchslose, sich selbst genügende Gewächse. Mit ihrer jahrhundertelangen alpinen Erfahrung können sie den Berliner Pflanzen beibringen, wie Seilschaften wirklich funktionieren: Auf die Wurzeln kommt es an, Amigos!
Was also hat die Hauptstadt noch, was andere deutsche Städte nicht haben? Auf ihren Straßen begegnet man Menschen, denen das Leben ein Gesicht eingezeichnet hat – auch wenn immer mehr genormte Lebensläufe von Mitte aus versuchen, das Stadtbild konzentrisch zu erobern: Verwalter und Lobbyisten, Infotainer und Spanner, Gattinnen und Praktikantinnen.
Berlin hat einen großen Magen. Manchmal ist es zum Kotzen, manchmal total überfressen. Aber am Ende hat es bisher noch alles verdaut, irgendwie. Natürlich hat die Stadt sich verändert, seit der Rhein die Regierung angespült hat. Mehr freilich verändert die Stadt die, die durch sie hindurchgegangen sind und hindurchgehen werden.
Christian Topp, 36, hat seine Jugend in Dessau verbracht. Seit 14 Jahren lebt er provisorisch in München, das er lange Zeit nur als eine Zwischenstation auf dem Weg nach Berlin angesehen hat. Er arbeitet als Fotograf und Grafiker.
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