: Ein Schock mit Folgen
Millionen Deutsche gingen erst dann auf die Straße, als Schläger und Brandstifter ihre Mission erfüllt hatten
von EBERHARD SEIDEL
Zehn Jahren nach Rostock-Lichtenhagen ist Deutschland eine andere Republik. Wachsamer gegenüber Rechtsextremismus und sensibler in Ausländer- und Asylfragen. Anfang der Neunzigerjahre störten Neonazi-Aufmärsche und Übergriffe auf Flüchtlingswohnheime außer Antifas und ein paar Gewerkschaftern nur wenige. Inzwischen ist das anders. Hunderte, Tausende Bürger demonstrieren – in Köln, Berlin, Dresden und anderswo. Und wenn die CDU/ CSU in diesen Wochen nur zögerlich Ausländer zum Wahlkampfthema macht, dann auch deshalb, weil sie die zivilgesellschaftlichen Reaktionen fürchtet.
Lichtenhagen war eine Zäsur. Die Bürger realisierten: Pogrome sind in Deutschland wieder möglich. Jenes Zusammenspiel zwischen aggressiv ausländerfeindlichen Teilen der Bevölkerung, behördlicher Duldung und Förderung dieser Haltung und dem Nichthandeln der Polizei.
Der rasende und klatschende Mob von 1992 konnte sich durchaus als Vollstrecker des Volkswillens fühlen. Denn bereits ein Jahr vor den Krawallen in Rostock-Lichtenhagen lieferten sich Union und Teile der SPD in der Asyldebatte ein Wettrennen nach rechts. In einem Brief vom 12. September 1991 rief der damalige CDU-Generalsekretär Volker Rühe alle CDU- und CSU-Fraktionsvorsitzenden in den Stadträten, Landtagen und Bürgerschaften dazu auf, die „Asylpolitik zum Thema zu machen und die SPD dort herauszufordern“. Zeitgleich startete Bild eine als „brandaktuell“ angekündigte Serie mit dem Titel „Asylanten in Deutschland – wer soll das bezahlen?“ Und 1992 ließ der damalige SPD-Fraktionsvorsitzende in NRW, Friedhelm Farthmann, alle rechtsstaatlichen Hemmungen fallen und schlug vor: „Gegebenenfalls Überprüfung nur durch einen Einzelrichter, am besten an Ort und Stelle, dann an Kopf und Kragen packen und raus damit.“
Der Anti-Asyl-Diskurs der politischen Mitte blieb nicht ohne Rückwirkungen. Schnell setzte sich die sich ausbreitende Fremdenfeindlichkeit in den Polizeieinheiten fort. Die Folge: Die Polizei zeigte immer weniger Bereitschaft, AsylbewerberInnen vor Angriffen zu schützen. Rechtsradikale Gewalttäter fühlten sich in ihrem Handeln legitimiert, zumal ein Großteil der Bevölkerung ausdauernd dazu schwieg. Die Bilanz: Zwischen 1990 und 1992 stieg die Zahl der Gewalttaten mit rechtsextremistischem Hintergrund um mehr als das Siebenfache auf 1.495 (laut Bundesamt für Verfassungsschutz 2002).
Erst nach Rostock-Lichtenhagen wurde sich die Republik ihres Zivilisationsverlustes bewusst. In ganz Deutschland entstanden Bürgerinitiativen gegen rechts. Auch die Führungsebenen der Polizei in Bund und Ländern besannen sich ihres demokratischen Auftrags. Allerdings gingen Millionen Bürger in Lichterketten erst dann auf die Straße, als Brandstifter, Totschläger und Menschenjäger mit dem Pogrom ihre Mission erfüllt hatten. Und die SPD Ende August 1992 signalisierte, dem Asylkompromiss zuzustimmen. Die von der Union geforderte Abschaffung des Grundrechts auf Asyl war damit nach zehnjähriger Diskussion unter Dach und Fach.
Polizei und Justiz reagierten auf den veränderten Volkswillen. Von nun an legten sie gegenüber der Neonaziszene eine etwas härtere Gangart ein. Endlich wurden Wohnungen seit Jahren bekannter Neonazis durchsucht, die über Jahre ungestört Überfälle organisieren konnten. Jetzt wurde ihnen nachdrücklich signalisiert: Das Anzünden von Flüchtlingswohnheimen ist kein geduldetes Widerstandsrecht mehr.
Heute, zehn Jahre später, gehört Aufklärung über Rechtsextremismus zum Standard polizeilicher Ausbildung, nehmen ihn Politiker aller demokratischen Parteien zumindest ernster. Die fremdenfeindlichen Einstellungen in Teilen der Bevölkerung sind mit den vielfältigen Bürgerinitiativen gegen rechts zwar nicht verschwunden, wie die nebenstehende Reportage zeigt. Aber es macht einen Unterschied, ob Fremdenfeindlichkeit ermuntert oder aber in die Latenz verdrängt wird.
Der Unterschied lässt sich messen. 1992 erreichte die Zahl der rechtsextremistisch motivierten Straftaten mit 1.495 seinen höchsten Stand, seit 1994 pendelt sie zwischen 700 und 800. Ein Erfolg, wenngleich ein bescheidener. Denn damit liegen die Zahlen immer noch um ein Vierfaches höher als 1990.
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