: Jeder sein eigener Demoskop
Die Wähler neigen dazu, sich dem vermuteten Mehrheitstrend anzupassen. Das macht Meinungsumfragen so unzuverlässig – und zugleich so wichtig
BERLIN taz ■ Noch vor zwei Wochen galt es angesichts der Umfrageergebnisse als ausgemacht, dass Rot-Grün nur durch ein politisches Großereignis zu retten sei, bei dem die Entschlusskraft der Regierung die Wähler umstimmen könnte. Angesichts der Flut kontrastrierte Schröders Vorschlag, die Steuerreduktion zu verschieben, eindrucksvoll mit dem Zickzackkurs des Herausforderers. Ergebnis: Laut Politbarometer ist die SPD bis auf einen Prozentpunkt an die CDU herangerückt.
An der Spitze der Problemlisten steht nach wie vor die wirtschaftliche Lage samt Arbeitslosenzahlen. Aber im Dreieck zwischen politischer Aktion, Medien und Meinungsumfragen treten Rückkopplungseffekte für das Wahlverhalten ein. Die Befragten unterstellen eine Veränderung der Stimmungslage zugunsten von Rot-Grün, der sie sich prompt anschließen. Sie agieren also als Minidemoskopen. Insofern könnte die Nachricht von der Aufholjagd von Rot-Grün den berühmten Band-Waggon-Efekt zeitigen. Jeder will auf den jeweils vorwärts eilenden Zug aufspringen.
Die Erhebungsmethoden selbst sind einigermaßen zuverlässig, sowohl was die gezogene Stichprobe als auch was die Auswertung angeht. Zu bedenken ist allerdings, dass die statistische Fehlerquote von 2,7 Prozent bei den Großparteien und 1,4 Prozent bei den Kleinparteien gerne verschwiegen wird. Verzerrungen gibt es auch bei der Altersgruppe der Senioren, wo die verwertbaren Interviews im Verhältnis zur Stichprobe absinken, vor allem durch Auskunftsverweigerung.
Unklar bleibt, welche Aussagekraft die Sonntagsfrage für das tatsächliche Wahlverhalten eigentlich hat. Zwischen der tatsächlichen Wahlentscheidung und vorangegangenen Erwägungen, wen man wählen könnte, klafft immer eine Lücke. Das demoskopische Gesellschaftsspiel wird zur harten Tatsache, dem Wahlakt. Und ob dann das politische Großergeignis, die Flutkatastrophe, noch wahlentscheidend wirkt, vermag kein Institut vorauszusagen.
Die zweite Frage ist elementarer. Stimmt es, wie der Wahlforscher Peter Lösche glaubt, dass die Befragten immer häufiger lügen – und nicht nur dann, wenn sie die gesellschaftlich geächtete Absicht haben, eine rechtsradikale Partei zu wählen? Dahinter steht wohl die Tendenz, sich – entgegen der eigenen Ansicht – dem jeweilgen Mehrheitstrend anzuschließen. Die Frage ist, ob sich solche Haltungen in der Wahlkabine fortsetzen werden.
CHRISTIAN SEMLER
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