bücher für randgruppen
: Seit den Achtzigerjahren entsteht in Hamburg ein Lexikon der deutschen Gebärdensprache

Ausgestreckter Zeigefinger für Polizisten

Erst vor zwei Jahren sind die deutsche Gebärdensprache und damit auch der Beruf des Gebärdendolmetschers von der Bundesregierung in den offiziellen Status erhoben worden. Jedes Land hat eine eigene Gebärdensprache mit eigener Grammatik, es gibt Dialekte und regionale Besonderheiten. Französische Gebärdensprache ist beispielsweise mit der in den USA eher verwandt als mit der Sign Language in England.

Das hat seine Ursache darin, dass vor über hundert Jahren der Lehrer einer französischen Gehörlosenschule in die USA übersiedelte und dort französische Gebärden lehrte. Hörende äußern da schnell den Gedanken, dass das doch irgendwie schade und unpraktisch für Gehörlose sei. Schließlich hätten sie die Möglichkeit, so eine Art Gebärden-Esperanto zu etablieren. Andererseits wird von Hörenden das rasante Aussterben vieler kleiner gesprochener Sprachen ganz allgemein und ganz selbstverständlich tief bedauert. Tatsächlich existiert eine ISL, International Sign Language, aber natürlich sind Gehörlose und Gebärdensprachler stolz auf ihre eigenen Kulturleistungen, die sie vor allem durch und mit ihren Landessprachen und ihren Dialekten gerade in den letzten hundert Jahren entwickelt haben.

Weder sind der Gebrauch noch das Dolmetschen von Gebärdensprache eine „bittere Notwendigkeit“ für Gehörlose, wie einst die Autorin Iris Hanika in einem Zeitungstext über das 1999 stattgefundene Festival „Gehörlose Musik“ in Berlin formulierte. Dort hatten gehörlose und hörende Künstler gemeinsam die Grenzen, Verbindungen und Überschneidungen zwischen Gebärden, Gebärdensprache und Musik ausgelotet. Gebärdensprache bildet längst eine Bereicherung von Sprache, Sprachkultur und Kultur und das gilt selbstverständlich nicht nur für Gehörlose. Das Unverständnis und die Distanz zwischen Hörenden und Gehörlosen zu überwinden, hatte sich 1983 eine Gruppe in Hamburg gebildet, um ein deutsches Gebärden-Lexikon zu erstellen. Zuerst bestand sie zur Hälfte aus Hörenden, zur anderen Hälfte aus Gehörlosen. Über die Jahre hat sich dieses Bild verschoben. Heute sind sechsunddreißig der vierzig Mitarbeiter gehörlos.

Die Gehörlosen haben ihre Sprache und deren Erforschung mehr und mehr in die eigene Hand genommen. Gleichzeitig nahm das Interesse Hörender am Erlernen von Gebärdensprachen stark zu. Das Lexikon ist mittlerweile auf vier ständig aktualisierte Bände angewachsen: Grundgebärden, Mensch, Natur, Aufbaugebärden. Lautsprachbegleitende Gebärden werden gezeigt. Diese Kommunikationsform kommt der reinen Gebärdensprache aber meist sehr nahe und bietet gerade interessierten Hörenden eine gute Möglichkeit für den Einstieg.

Um die Bewegungsabläufe nachvollziehen zu können, entwickelten die Autoren Einzeichnungen, die über die Fotos gelegt wurden. Ausgeführt werden die Gebärden von unterschiedlichen Modellen, die ihren ganz eigenen Ausdruck haben. Denn Gebärdensprache wird immer auch mimisch begleitet. Bei den Begriffen „Polizei“ und „deutsch“, die in der DGS das gleiche Gebärdenzeichen aufweisen, nämlich den über die Stirn ausgestreckten Zeigefinger – entwickelt aus der Pickelhaube –, ist beispielsweise das Mundbild zur Unterscheidung absolut notwendig. Für das Verb „trinken“ gibt es dagegen in der deutschen Gebärdensprache zahllose Varianten, die davon abhängig sind, wie und was getrunken wird. Die Handform greift diese semantische Ebene auf. Das Gebärden-Lexikon ist ein informatives Nachschlagewerk mit alphabetischem Wörterverzeichnis und überdies ein konkurrenzloses Werk, das ständig weiterentwickelt wird. In den USA, wo jeder Polizist einen Grundkurs in amerikanischer Gebärdensprache erhält, gibt es bereits Gebärden für chemische Formeln. Dort existieren auch etliche Lehrstühle für Gebärdensprache, besetzt von gehörlosen Professoren. In Deutschland gibt es so einen Lehrstuhl bisher nur in Hamburg, das mit dem dort ansässigen Institut für Deutsche Gebärdensprache dann auch das Zentrum der Untersuchungen zum Thema in Deutschland ist.

WOLFGANG MÜLLER

Maisch/Wisch: „Gebärden-Lexikon“. 4 Bde. Verlag Hörgeschädigter Kinder, Hamburg 1983ff. Je Band zwischen 38,30 und 63,60 EuroIn der aktuellen Ausgabe der vierteljährlich erscheinenden Zeitschrift für Sprache und Kultur Gehörloser „Das Zeichen“ (Nr. 60) ist ein ausführlicher Beitrag unseres Autors zu finden: „Zwischen Elfe und Elvis oder Wie schön ist Gebärdensprache?“ Die Zeitschrift kostet 10 Euro. E-Mail:das.zeichen@sign-lang.uni-hamburg