: Die Menschen der Zukunft
Stefan Bachmann wollte die Rolle der Ophelia in seiner „Hamlet“-Inszenierung am Königlichen Theater in Kopenhagen mit einer Schauspielerin mit Down-Syndrom besetzen. Trotz des nachfolgenden Streits: Behinderte sind in den Medien und auf der Bühne gut gelitten – aus den richtigen Gründen?
von OLIVER TOLMEIN
Idioten, lässt der dänische Regisseur Lars von Trier einen Schauspieler in seinem Dogma-Film „Idioten“ erkennen, seien in einer Gesellschaft, die immer reicher wird, aber niemanden glücklich macht, die Menschen der Zukunft. Stefan Bachmann, bis vor kurzem Schauspieldirektor in Basel, wollte das dänische Theater auf die Höhe des dänischen Films bringen und besetzte in seiner „Hamlet“-Inszenierung, die am 13. September am Königlichen Theater in Kopenhagen Premiere haben sollte, die Ophelia mit einer geistig behinderten Schauspielerin. In Lars von Triers Film spielt eine Gruppe gut situierter Nichtbehinderter, die aus ihrer als stumpfsinnig empfundenen Normalität ausbrechen wollen, verrückt – aber statt der erhofften Befreiung erleben sie schließlich nur Enttäuschung.
Warum die mit Trisomie 21 (bekannt auch als Down-Syndrom oder früher in rassistischem Kontext als Mongolismus bezeichnet) lebende Schauspielerin Christina Knudsen in Bachmanns Inszenierung die „Ophelia“ spielen wollte, wissen wir nicht. Und wir werden auch nicht erfahren, ob sie mit ihrem Vorhaben gescheitert wäre. Während von Triers Film nämlich Triumphe feierte, hat der Theaterregisseur Bachmann seine Arbeit wegen unüberbrückbarer Differenzen mit Teilen seines Ensembles über „ethische Fragen“ Anfang August niedergelegt. Seitdem beherrscht die kontroverse Diskussion, ob es sinnvoll, zulässig und ästhetisch vertretbar war, die Rolle der Ophelia mit einer behinderten Frau zu besetzen, die dänischen Medien. In der deutschen Öffentlichkeit hat sich der Regisseur bislang nur gegenüber dem Tagesspiegel knapp über das Regiekonzept seines dänischen „Hamlet“ geäußert. Die Ophelia sei als Figur „zwischen Mythos und Körperlosigkeit … kaum spielbar“, und weil sie auf der Bühne deswegen ein Fremdkörper bleibe, sei es spannend, sie mit einer geistig behinderten Frau zu besetzen: „Mongoloide Menschen sind für uns Unberührbare, sie haben Heiligenstatus und sind diskriminierte Außenseiter.“ Heilige als diskriminierte Außenseiter, Behinderte als Unberührbare – das klingt bedeutungsschwer und quergedacht, ist aber, so unbestimmt und nebulös zu einer säkularen und am Gleichheitsideal orientierten Öffentlichkeit gesprochen, nichts anderes als Kitsch. Dass Bachmann über seine immerhin wochenlange Arbeit als Regisseur mit Christina Knudsen nichts Genaueres zu erzählen weiß, als dass es „um Mitmachen, Einbeziehen, Integrieren“ ging, verstärkt den Eindruck, dass für ihn die Besetzung in erster Linie nichts anderes war als ein Regieeinfall.
Mit diesem Einfall steht der junge deutsche Regisseur nun allerdings nicht allein. Während in der wirklichen Welt der westlichen Industrienationen nach Einführung der Pränataldiagnose gerade Menschen mit Trisomie 21 zusehends Trotzdem-Geborene sind, Glückliche, die im Raster des Screenings nicht gefangen wurden, Fälle, die als „wrongful birth“ vor Gericht gebracht werden können, um Schadenersatzzahlungen von Medizinern zu erstreiten, sind Behinderte in der deutschen Kultur- und Medienszene gefragt wie lange nicht: Bobby Brederlow spielte in „Liebe und andere Katastrophen“ die Hauptrolle und ist seitdem zum Vorabend-Serienstar avanciert; in der „Lindenstraße“ tritt gelegentlich „Martin“, ein kleiner Junge mit Trisomie 21, auf; eine Gruppe Behinderter aus den Alsterdorfer Anstalten, Station 17, hat nicht nur in enger Kooperation mit deutschen Independent-Musikern mittlerweile fünf CDs, sondern auch mehrere Filme und zwei Theaterinszenierungen auf Kampnagel herausgebracht; die Ausstellung „Der (im)perfekte Mensch“ verzeichnete in Dresden und Berlin hervorragende BesucherInnenzahlen – und irgendwie gehört auch der Grand Prix d'Eurovision mit der blinden deutschen Corinna May auf diese Liste. Die Produktionen sind so unterschiedlich wie die Medien – dort, wo einzelne Geschichten erzählt oder präsentiert werden, sieht man vielleicht von „der (im)perfekte Mensch“ ab, weisen sie aber auch Gemeinsamkeiten auf: Es sind Geschichten von Fremden, die freundlich aufgenommen werden sollen. Fremd sind sie aber nicht in dem Maß und in der Art, wie wir uns alle fremd vorkommen, wenn wir plötzlich einen Einblick aus nächster, von Medien geschaffener Nähe in ganz intime Momente des Lebens anderer erhalten. Als Fremde werden sie uns vorgeführt, weil sie so sind, wie sie sind. Sie sind nicht anders, sondern ganz anders – man kann die Ganz-Anderen zwar lieb haben und als glückliche Wesen empfinden, aber sie repräsentieren doch, anders als Arztkollegen, Gastwirte oder andere Serienstars, die irgendwann zum Individuum mutieren und uns ganz vertraut werden, stets eine Gruppe, werden nie zu der Einen, die einem vertrauter werden könnte, als eine der vielen Nichtbehinderten. Die Integration, das „Seid nett zueinander, wir sind doch alle Menschen“ gerät so zum bloßen Appell, der zudem nur unverbindlich freundlich ist, nicht sich etwa offen gegen die Wirklichkeit richtet, die gegenwärtig so verändert wird, dass es Menschen mit Trisomie 21 in ihr irgendwann nicht mehr geben soll. Während Menschen mit Behinderungen aus dem Alltag, den sie sich anschickten zu erobern, mit einigem Engagement verdrängt werden, bekommen so ein paar von ihnen einen Platz in der Kultur und sollen dort Alltagsgeschichten spielen, die im Alltag längst keinen Platz mehr haben. Die Eltern von „Martin“ beispielsweise entscheiden sich nach einer pränatalen Diagnose, anders als 97 Prozent der realen Eltern, ihr Kind trotz der Behinderung zur Welt zu bringen.
In Ophelias Welt gibt es diesen Alltag nicht. Und das macht die Überlegung, eine Frau mit Trisomie 21 mit ihr zu besetzen, spannend und fragwürdig zugleich. Spannend, weil damit ein Blick auf Behinderung geworfen werden könnte, der Poetischeres oder Realistischeres zu zeigen vermag als der säuselsanfte Naturalismus der sonstigen Medienwelt. Fragwürdig, weil die Gefahr besteht, dass hier Behinderte tatsächlich nur instrumentalisiert werden. Einige deutsche Theaterkritiker, wie beispielsweise Peter von Becker, der Tagesspiegel-Kulturchef und einstiger Theaterdramaturg, haben Bachmann vorgeworfen, indem er eine behinderte Frau mit der Rolle der Ophelia besetze, zerstöre er den Kunstcharakter der Figur, der Zuschauer dürfe nicht durch das physisch Vorgegebene im Unabänderlichen gefangen und so sein Mitgefühl moralisch erpresst werden. Lars von Trier hat in den dänischen Medien die Gegenposition vertreten und den Schauspielern, die sich weigerten, Bachmanns Regieidee zu folgen, „genetische Diskriminierung“ vorgeworfen, weil sie eine Schauspielerin wegen ihrer Behinderung von einer Rolle ausschließen wollten. Von Trier lässt dabei außer Acht, dass auch eine „genetische Diskriminierung“ vorliegt, wenn eine Schauspielerin nur wegen ihrer Behinderung mit einer Rolle besetzt wird. Von Becker suggeriert, dass das, was uns die Fernsehserien bieten – Behinderte, die bloß freundlich integrierte Freaks sind –, alles ist, was Menschen mit Behinderungen als Schauspieler zu bieten haben. Warum soll aber eine Frau mit Trisomie 21 durch ihr Spiel das „physisch Vorgegebene“ nicht transzendieren können und gerade so, durch ihr Spiel, dem Publikum einen neuen Frei-Raum eröffnen? Behinderte Künstler wie der Schauspieler und Autor Peter Radtke oder der Tänzer und Dramaturg Raimund Hoghe, aber auch Station 17 mit manchen ihrer Liveauftritte haben längst gezeigt, dass die Präsenz von Menschen mit Behinderungen auf der Bühne kein Signal für Mitgefühl sein soll und muss.
Im Fall der „Hamlet“-Inszenierung von Stephan Bachmann stellen sich die Verhältnisse allerdings anders dar: Hier ging es um einen literarischen Text, um eine Figur, mit der das Publikum bestimmte Vorstellungen verbindet. Am Königlichen Theater hat nicht eine Behinderte entschieden, sich diesen Vorstellungen verweigern zu wollen, hier hat ein Regisseur ein Konzept präsentiert, in dem eine Frau die Rolle spielt, die keine Chance hat, sich den Erwartungen bewusst zu verweigern, weil sie sie gar nicht hätte erfüllen können. Christina Knudsen ist in einen theatralischen und literarischen Kontext gestellt worden, der ihr verschlossen bleiben muss. Nicht dem Theater wäre also durch die Inszenierung die Freiheit genommen worden, sondern der Schauspielerin, die vielleicht im Verlauf der Probenarbeit ihren eigenen Zugang zu „Hamlet“ hätte entwickeln können, die aber, ohne dass sie sich dafür hätte entscheiden können, in jeder Vorstellung als eine wahrgenommen worden wäre, die von ihrer Rolle abweicht.
Seltsam ist allerdings, dass nicht die Angehörigen von Christina Knudsen oder sie selbst gegen ihre Instrumentalisierung durch ein Regiekonzept vorgegangen sind und dass auch nicht sie oder ihr nahe stehende Menschen in der darauf folgenden Debatte zu Wort kamen, sondern dass dieser Diskurs vollständig in der Welt der anderen, der Nichtbehinderten ausgetragen wird. Deutlicher hätte kaum werden können, dass die Inszenierung von Stefan Bachmann so wenig zu einer anderen Perspektive auf Behinderung beigetragen hätte wie jetzt ihre Verhinderung.
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