: Guck mal!
Zehn Jahre Offener Kanal. Das anfangs skeptisch beobachtete Projekt ist zur Institution geworden. 8.000 BremerInnen haben schon selbst gesendet
Wir sind Reisende in der Bahn, die Landschaft zieht an uns vorbei. Passiv sitzen wir im Abteil, starren ins Fenster und sehen nur das Besondere. So ist Fernsehen oder Radiohören. Wir wissen, der Zug fährt in die richtige Richtung und im Fenster vergewissern wir uns, ob nicht eine unmittelbare Bedrohung besteht. Aktiv werden wir nicht, außer eine Großstadt stürzt in sich zusammen. Wozu brauchen wir also offene Kanäle? Zehn Jahre in Bremen, neun Jahre in Bremerhaven. Hurra?
Bert Brecht prangerte schon Ende der 1920-er Jahre das Massenmedium Radio als einseitiges Bedienungsprogramm an. Für seine Radiotheorie übertrug er das, was er für das Theater forderte: mehr aktive Beteiligung. Die Hörer sollten ins Radio springen dürfen, um selbst Radio zu machen. Brecht verlangte eine doppelte Dienstleistung. Senden und Empfangen. Zehn Jahre in Bremen, neun Jahre in Bremerhaven. Hurra! Der offene Kanal (OK) feiert Jubiläum.
Über 8.000 Bremerinnen und Bremer sind bisher in das alte Fabrikgebäude in Findorff gepilgert, um selbstständig Fernseh- und Radioprogramme zu produzieren. Sechs Jahre hat man gewartet, bis jemand die bange Frage stellte: Guckt uns denn überhaupt einer? Eigentlich eine unwichtige Frage, denn der OK finanziert sich durch Rundfunkgebühren und nicht durch Werbung. Dennoch war die Scheu vor der Einschaltquote groß. Ein schlechtes Ergebnis hätte für Kritiker am System Bürgerfunk Futter bedeutet. Und Kritiker gab es in der Anfangszeit genügend. Journalisten trauerten um die Rundfunkgebühren und ohne redaktionelle Betreuung käme sowieso bestenfalls Unsinn bei rum. Radio und Fernsehen für alle? Paperlapap. Schweinkram im Äther! Revolution! Und überhaupt: Sehen würde den offenen Kanal wegen der extrem geringen Reichweite eh niemand.
Die Unkenrufe haben sich im Laufe der zehn Jahre gelegt und sogar die Umfrageergebnisse lassen sich sehen: Das Fernsehprogramm erreicht 215.000 Wohnungen in Bremen und Umzu, die an das Kabelnetz angeschlossen sind. Etwa eine halbe Million Ferngucker können den Offenen Kanal empfangen. Öfter als einmal pro Woche zappen sich knapp zwanzig Prozent, also rund 100.000 Bremerinnen und Bremer in das verwackelte und zuweilen unscharfe Programm des offenen Kanals. Als Stammpublikum kommen nochmal 30.000 hinzu.
Warum tun sich das so Viele an? Welche Gründe gibt es, neben professionellem Fernsehen und durchformatierten Radiosendungen ein Programm von laienhaften Programmmachern einzuschalten? Die Akzeptanzstudie der Uni Hannover, die 1998 im Rahmen eines Sozialstrukturforschungs Programms erstellt wurde, hat weiter nachgefragt. Ergebnis: Auf den OK Bremen stehen junge Leute, die gut verdienen und gar nicht so dumm sind. Fakt ist auch, dass Frauen die Möglichkeit der demokratischen Programmgestaltung weniger nutzen. 40 verschiedene Kulturen, vom Angolesen bis zum Ukrainer senden derzeit im OK teilweise muttersprachlich oder ganz ohne Kommentar.
Bei Verstößen gegen die Regeln, behält sich der OK das Recht vor, abzuschalten. Das kann bei minder schweren Vergehen wie Überziehen der Sendezeit oder bei fehlender Angabe des Verantwortlichen geschehen. Schlimmer war es 1998, als gegen 19 Uhr in Großaufnahme und ohne Kommentar eine Steinigung im Iran gezeigt wurde. Nach zwanzig Minuten schaltete der Programmleiter ab. Uwe Parpart, Landesbeauftrager der OKs ist sich bewusst, dass der Abbruch eines Films in das Grundrecht des Nutzers eingreift. Dennoch sei die Aktion notwendig gewesen, aufgrund der jugenduntauglichen Sendezeit.
Bert Brecht hätte das gefallen, nicht die Steinigung, aber das vielfältige Angebot. Nach zehn Jahren OK in Bremen weiß man, Radio und Fernsehen kommt ver- und entfremdet tierisch gut.
Hannes Krug
Wer den OK noch nicht so gut kennt, kann sich alles ganz genau während der Jubiläumsfeier am Freitag, 30. August, ansehen. Die Geburtstagsfeier beginnt um 16.30 Uhr in den OK-Studios, Findorffstraße 22-24. Radio, 92, 5 MHz und Fernsehen, Kanal 11 sind mit einem Live-Programm dabei.
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