: Vom Winde durchweht
Der Schinkenhimmel liegt in Parma. Die einzigartige Delikatesse ist eine Komposition aus Schwein, Salz, Wind und Zeit. Industrielle Billigimitate bedrohen das authentische Spitzenprodukt
von TILL DAVID EHRLICH
Es duftet nach Mandeln und frischen Walnüssen. Mario Mori öffnet die Tür zum Lagerhaus und ist im Schinkenhimmel. Der 43-Jährige betritt sein Reich, eine Kathedrale aus Schweinekeulen. Unzählige Schinken sind hier zum Trocknen aufgehängt. Signore Mori ist wortkarg und klein, sein Händedruck ist fest, der Schritt schnell. Die Bewegungen sind sparsam, aber geschmeidig. Er ist der Maestro in der Manufaktur „Pio Tosini“, fünfzehn Kilometer südlich von Parma. Mori ist verantwortlich für die Herstellung von jährlich einigen tausend Schinken.
Sanft steigen die grünen Hügel hinter Parma an, hoch zum Gebirgszug der Apenninen. Das Hügelland liegt neunhundert Meter über dem Meer. Es ist ein kleines Gebiet am Lauf des Flusses Parma, das neun Gemeinden umfasst. Hier, und nur hier, sind zweihundert Schinkenmanufakturen angesiedelt. Nur sie dürfen den echten „Prosciutto di Parma“ produzieren. Das Geheimnis dieses Schinkens ist das Trocknen der ganzen Schweinekeule im Wind. Eine zweitausendjährige handwerkliche Kunst, die sich trotzig weigert, eine Industrietechnik zu werden. Noch immer dominiert bei der Entstehung des Parmaschinkens die Handarbeit. Sie erfordert Gefühl, viel Erfahrung und Zeit der Reife. Die Zeit garantiert, dass eine fünfzehn Kilo schwere Schweinekeule samt Knochen und Schwarte nicht verdirbt, sondern zu einer Köstlichkeit reift. Mindestens ein Jahr lang hängen die Schinken im Wind. Der gibt dem echten Parma seinen unverwechselbaren Geschmack.
Es ist ein besonderer Wind: nicht zu feucht und nicht zu trocken. Die Manufakturen sind so gebaut, dass der Wind durch sie hindurchgeht. Die Lagerhäuser sind riesig, die Fenster schmal und hoch. Sie sind nach Süden ausgerichtet, wo der Wind vom Gebirge einfällt. Er kommt von der toskanischen Küste, weht durch Olivenhaine und Pinienwälder. Er wird milder und trockener, wenn er die Gipfel des Apennin erreicht. Er streicht durch Kastanienwälder und fällt ab in die Hügel bei Parma, wo er fette Schweinekeulen trocknet.
Für die Schinken dürfen nur Keulen von drei speziellen Rassen genommen werden. Sie kommen aus elf italienischen Regionen. Die Region von Parma kann längst nicht mehr alle Schweine aufziehen, die sie für ihre Schinken benötigt. Die Schweine dürfen nur mit Gerste gemästet werden. Und mit der Molke, die bei der Herstellung von Parmesankäse anfällt. Die Molke macht das Fleisch aromatisch und die Schweine fett.
Mario Mori ist in seiner Manufaktur der „Maestro Salatore“ – der Meister des Einsalzens. Zehn Jahre hat er diese Kunst gelernt, bis er den Titel tragen durfte. Der Maestro hat verinnerlicht, wie viel Zeit, Wind und Salz jede Keule braucht. Jede ist ein Einzelstück. Die Kunst des Einsalzens entscheidet über die Güte der Schinken. Echter Parmaschinken wird nur mit grobem Meersalz, ohne Konservierungsstoffe und Zusätze, hergestellt. Maestro Salatore wacht über Temperatur und Wind. Mit einem Pferdeknochen prüft er die Reife. Der Knochen ist porös, so haftet der Geruch des Schinkens an ihm. Mit dem spitzen Knochen sticht der Maestro an fünf kritischen Stellen in die Keule. Junge Schinken duften nach Fleisch, reifere nach Nüssen. Nach einem Jahr prüft ein Kontrolleur des „Consorzio del Prosciutto di Parma“ ebenfalls den Duft. Ist er perfekt, brennt er sein wertvolles Siegel in die Schwarte: die fünfzackige Krone der Herzöge von Parma.
Neun Millionen Parmaschinken werden jedes Jahr produziert. Parmaschinken ist Big Business. Auch die Deutschen lieben luftgetrockneten Schinken. Parma liebt ihn noch mehr. Nur vierzehn Prozent des Schinkens liefert die Region ins Ausland. Und weil Italien verrückt ist nach Schinken, soll er nicht zu teuer sein: ab etwa 2,50 Euro für hundert Gramm. Aber die Herstellung ist aufwändig und teuer. Sie lässt sich nicht industrialisieren, weil damit die regionale Einzigartigkeit nivelliert würde. Und der Anspruch, dass Geschmack nicht austauschbar ist.
Dafür ist man bei der Aufzucht der Schweine etwas lässiger. Sie stammen überwiegend aus der Massentierhaltung – weniger als ein Prozent der Schinken kommt aus Bioaufzucht. Wer in Parma hartnäckig nach Bioschinken fragt, wird belächelt. Freundlich, aber direkt. Schade! So kann dieser einzigartige Schinken sein geschmackliches Potenzial noch nicht ausschöpfen. Aber: Letztlich entscheiden die Verbraucher, ob das so bleibt.
Schon jetzt wird in der Region von Parma in den Fabriken als Konkurrenzprodukt ein luftgetrockneter Schinken hergestellt. Für Aldi und Co., aber auch für manch kleinen Italoladen in Deutschland, wird das Imitat „Tipo Parma“ billig und schnell produziert. Ohne Wind, ohne Gefühl und ohne Handarbeit. Salzig und zäh. Das Fleisch kommt aus industrieller Mast, die Schweine werden aus ganz Europa herangekarrt.
Das Schinkenkonsortium von Parma ist Gralshüter des fünfzackigen Siegels. Es kämpft beinhart gegen die Industriekonkurrenz, die das Image schädigt. Zu Recht. Denn erst das Zusammenspiel von Natur und Mensch, von Tradition und Moderne lässt echten Parmaschinken entstehen. Er schmilzt auf der Zunge. Er schmeckt nicht salzig. Seine Aromen sind intensiv und leicht süßlich. Er soll nicht zu mager sein, das Fett ist ein wichtiger Geschmacksträger, dem Zeitgeist zum Trotz. Ohne sein Fett wäre der Parma weniger zart, sein Aroma weniger komplex.
Parma ist nicht gleich Parma. Erst das fünfzackige Siegel garantiert Qualität. Entsprechend groß sind die Unterschiede. In Deutschland wirklich guten Parma zu genießen, hängt nicht nur vom Preis ab, sondern vor allem von der Kompetenz und dem Engagement des Händlers. Enzo Puglisi ist seit zwanzig Jahren mit den Höhen und Tiefen des Schinkengeschäfts vertraut. Er ist einer der besten Parmahändler in Deutschland. In seiner Salumeria am Stuttgarter Platz in Berlin-Charlottenburg (Fon [0 30] 3 24 33 18) bietet er allein sieben verschiedene Reifestufen von Parma preiswert an. Entscheidend ist die Reifezeit des Schinkens am Knochen. Der wirkt wie ein Weinkorken: Wird er entfernt, kann sich der Geschmack nicht mehr weiterentwickeln.
Ein zwölf Monate gereifter Parma befindet sich noch in der Pubertät, er schmeckt fest und fleischig. Ist er sechzehn Monate alt, wird er langsam erwachsen, entwickelt köstliche Aromen. Mit achtzehn Monaten beginnt die Schönheit der Reife. Sein Duft lockt, der Geschmack betört, der Genuss ist ein sinnliches Erlebnis. Die kostbarsten Parmaschinken sind zwei bis drei Jahre alt. Jeder Schinken hat Anfang, Mitte und Ende. Die besten Scheiben werden aus der saftigen Mitte geschnitten. „Ich habe einen Traum“, sagt Signore Puglisi, der Schinkenpate. „Ich bekomme nur die Mittelstücke der schönsten Schinken geschickt.“ Manchmal beginnt das Glück mit einem Traum.
TILL DAVID EHRLICH, gelernter Koch im besten Alter, ist Food- & Weinjournalist in Berlin
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