: Lesbar ausbrennen
Wie man seine Helden mit minutiöser Genauigkeit entblößt und dabei noch elegant bleibt: Der niederländische Schriftsteller Leon de Winter liest auf dem diesjährigen Sommerfest des LCB aus seinem Roman „Leo Kaplan“
Leo Kaplan ist ein armes Schwein. Zwei Ehen sind gescheitert, diverse Affären im Nichts verlaufen. Achtunddreißig Jahre ist er alt und wohnt in einem muffigen Studentenzimmer. Seine Eltern sind gestorben, ohne dass er sich mit ihnen ausgesöhnt hat. Leo Kaplan zerfließt in Selbstmitleid.
Eigentlich ist er ein bekannter Schriftsteller, doch er fühlt sich ausgebrannt – seit jenem Tag, an dem er Ellen, seine große Jugendliebe, in einem Krankenhaus in Kairo wiedersah. Sie lief an ihm vorbei, erkannte ihn nicht. Da merkte er, dass er nach ihr „das Feuer in seiner Krokodilseele erstickt hatte“. Der niederländische Autor Leon de Winter erzählt in seinem 1986 veröffentlichten und im letzten Jahr übersetzten Roman „Leo Kaplan“ leicht und elegant von einer unerfüllten Liebe und vom verzweifelten Versuch, die Zeit zurückzudrehen. Leo Kaplan ist ein typischer Held de Winters: bemitleidenswert, verwirrt, irgendwie lächerlich und doch sympathisch. De Winter entblößt seinen Helden mit minutiöser Genauigkeit und macht absurde und komische Situationen zu tragischen Momenten.
Wie alle Protagonisten de Winters, der 1954 als Sohn jüdischer Holocaust-Überlebender geboren wurde, kämpft auch Kaplan mit seiner Identität. Er ist traumatisiert durch die Erfahrungen der Eltern und fühlt sich von ihrer Fürsorge erdrückt. Schuldgefühle quälen ihn. Nach seinem großen Romanerfolg – „Hoffmans Hunger“, ein Buch, das de Winter 1990 selbst schreiben wird – hat Leo Kaplan zwei Jahre lang nichts mehr zu Papier gebracht.
Inmitten seiner Schreibkrise grübelt der Schriftsteller über Literatur und seine Position in der literarischen Welt. An dieser Stelle wird der autobiografische Bezug zu de Winter besonders deutlich. Kaplans Gedanken könnten Mitte der Achtzigerjahre de Winters gewesen sein. Leon de Winter hatte an der Filmakademie in Amsterdam studiert. Er schrieb Drehbücher, veröffentlichte 1978 seinen ersten Roman und verfilmte ihn ein Jahr später. Er zählte sich zu einer Gruppe junger Schriftsteller, die ihre Vorbilder in Joyce, Flaubert oder Nabokov sahen und vor allem Form und Kunstcharakter ihrer Bücher betonten. Postmoderne psychologische Romane schrieben sie. Die „Akademiker“ nannte man sie in Kritikerkreisen.
Mitte der Achtziger kam de Winter mit dem Schreiben nicht mehr weiter – und änderte darauf seinen Stil radikal. Er gesellte sich zu den Geschichtenerzählern der amerikanischen Tradition und begann „gut lesbare“ Bücher – wie er sie selbst nennt – zu schreiben. Die niederländische Literaturkritik hat ihm diesen Wandel bis heute nicht verziehen.
Gelohnt hat er sich allemal, denn de Winter zählt zu den bekanntesten Schriftstellern der Niederlande. In Deutschland wurde er vor allem durch „Hoffmans Hunger“ und „Der Himmel von Hollywood“ bekannt. Gut lesbare Bücher eben. „Leo Kaplan“ war das Erste davon.
KATJA HANKE
Leon de Winter liest heute auf dem Sommerfest des Literarischen Colloquiums Berlin – neben Doris Dörrie, Jessica Durlacher, Hugo Loetscher u. a. Am Sandwerder 5, Wannsee
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