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Papierlose wieder da

Mit Protesten und Besetzungen fordern „Illegale“ in Frankreich gültige Aufenthaltspapiere für alle

aus Paris DOROTHEA HAHN

Plötzlich sind sie wieder da. Als wäre ein lang verschlossenes Ventil geplatzt, trauen sich die Papierlosen in Frankreich wieder aus ihren Verstecken. Täglich zahlreicher, besetzen, hungerstreiken und demonstrieren sie. Und verlangen exakt das, was zuletzt vor sechs Jahren für ein paar Wochen im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses stand: Aufenthaltspapiere für alle.

Diese Woche erreichte die Bewegung ihren bisherigen Höhepunkt. Nachdem der Bischof von Saint-Denis im Norden von Paris die Besetzer „seiner“ Basilika am Wochenende bat, die Aktion zu beenden, ihnen aber weiterhin seine moralische Unterstützung zusagte, gingen die Sans Papiers auf die Straße. Am Sonntag waren bereits mehr als 1.500 Menschen unterwegs. Gestern noch mehr. Bis zum Samstag, wenn eine nationale Demonstration und möglicherweise eine neue Besetzung in der französischen Hauptstadt ansteht, sind täglich neue Aktionen geplant.

Die Bewegung hat sich ganz allmählich und sehr dezentral angekündigt. So fanden in den vergangenen Wochen vereinzelte Hungerstreiks in den Städten Lille und Lyon statt. Doch auf nationaler Ebene blieb es ruhig. Als gäbe es die mehreren hunderttausend Menschen gar nicht, die in Frankreich leben, arbeiten, Steuern und Sozialversicherungen zahlen – und dennoch keinerlei legale Existenz haben.

Im Gegensatz zu der Sans-Papiers-Bewegung Mitte der 90er-Jahre, die vor allem aus Einwanderern aus dem Senegal und Mali bestand, von denen viele weder lesen noch schreiben konnten, sind die neuen Kirchenbesetzer ein kulturell, sozial und national bunt gemischter Haufen. Unter ihnen sind Intellektuelle aus Algerien und Arbeiter aus Schwarzafrika. Seit dem Wochenende haben sich auch asiatische Papierlose der Bewegung angeschlossen.

Viele Algerier hatten ursprünglich befristete „Duldungen“ in Frankreich. Nach deren Ablauf sind sie nicht in ihr Land zurückgekehrt, weil die Gefahr für ihr Leben ihnen dort weiterhin zu groß erscheint. In Frankreich wurden sie in dem Moment zu „Illegalen“.

Viele Afrikaner sind mit befristeten Arbeitserlaubnissen, die sie legal in ihren Herkunftsländern erhalten haben, nach Frankreich gekommen. Nach deren Ablauf fielen sie in die Illegalität. Unter den Chinesen sind viele, die sich auf Jahre hinaus verschuldet haben und ihre Arbeitskraft in Frankreich oft an Zweigstellen derselben Schlepperorganisationen verkaufen müssen, die sie nach Europa gebracht haben.

Die Besetzung von Saint-Denis fand mitten im Sommerloch statt. Zudem wenige Tage vor dem Jahrestag der brutalen Räumung der Kirche Saint-Bernard im Sommer 1996, bei der mit Äxten bewaffnete Polizisten die Türen der Kirche in Paris öffneten. Jene spektakuläre Räumung und die ihr folgende massenhafte Unterstützungsbewegung für die Papierlosen, an denen sich sowohl die oppositionelle Linke als auch viele Künstler beteiligten, trug zu der Atmosphäre bei, die einige Monate später den Machtwechsel in Paris auslöste.

Seither war es still um die Papierlosen geworden. Der Innenminister der rot-rosa-grünen Regierung, Jean-Pierre Chevènement, hatte kurz nach seinem Amtsantritt im Sommer 1997 die Papierlosen dazu aufgefordert, Anträge auf Regelung ihres Aufenthaltsstatus zu stellen. Rund 150.000 Anträge liefen bei den Behörden ein. Das war zwar – nach Schätzungen aller Beteiligten – nicht einmal die Hälfte der damals in Frankreich lebenden Papierlosen. Aber doch ein positives Zeichen. Dass die Behörden dann bei den Einzelfallprüfungen nur rund 80.000 Antragsteller anerkannten und selbst an viele von diesen nur eng befristete Aufenthaltsgenehmigungen vergab, enttäuschte viele.

Doch die große Sympathiebewegung für die Sans Papiers war verpufft. Statt vieler zigtausender nahmen nur noch wenige Dutzend „alteingesessene“ Franzosen an den Protestaktionen teil. In den Regierungsparteien, die sich im Wahlkampf 1997 gerne mit den Sprechern der Papierlosenbewegung geschmückt hatten, interessierten sich nur noch vereinzelte Stimmen bei Grünen und Kommunisten für deren Schicksal.

Nach dem Umzug der Linken auf die Oppositionsbänke stehen nun die Chancen der Papierlosen auf politische Unterstützung wieder besser. Sämtliche linken Parteien schickten Delegationen zu den Besetzern der Basilika von Saint-Denis. Sozialdemokrat Jack Lang telefonierte anschließend mit dem rechten Innenminister Nicolas Sarkozy und forderte ihn zu wohlwollender Prüfung der Anträge auf Anerkennung auf.

Die Organisatoren der Besetzung der Basilika von Saint-Denis, wo schon nach wenigen Tagen hunderte von neuen Teilnehmern aus ganz Frankreich aufkreuzten, waren schnell von ihrem eigenen Erfolg überrannt. Jetzt fordern sie Papierlose in ganz Frankreich zu örtlichen Demonstrationen auf und dazu, ihre abgelehnten Anträge erneut bei den Präfekturen einzureichen. Für die Papierlosen selbst ist die Zusammensetzung der französischen Regierung zweitrangig. Sie wechselten in ihrer Forderung einfach die Namen aus. „Chirac, Raffarin, Sarkozy – seid mutig!“ steht auf ihren neuen Transparenten.

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