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Ein französisches Mädchen

Anne-Sophie Brasme, 18, hat ein Buch über eine mörderische Teenagerfreundschaft geschrieben. Die Literaturkritik schätzt an „Dich schlafen sehen“ vor allem den verführerischen Duft von Aknepuder

von CHRISTIANE TEWINKEL

Anne-Sophie Brasme hat die Beine übereinander geschlagen und ihre manikürten Hände elegant im Schoß zusammengelegt. Sie sieht nett aus, wie sie da im Foyer des Berliner Maritim sitzt, in Nike-Turnschuhen und einer braunen Nadelstreifenhose: eine junge Französin kurz vorm ersten Semester, die freundlich auf alle Fragen antwortet und ganz natürlich, wenn nicht sogar ziemlich normal wirkt. So gesehen ist an Anne-Sophie Brasme, Jahrgang 1984, gar nichts Auffallendes

Vor einem Jahr ist Anne-Sophie Brasme mit einem Buch an die Öffentlichkeit getreten. „Dich schlafen sehen“ ist ein Roman über die neurotische Bindung zwischen zwei jungen Mädchen, über ein qualvolles Mit- und Gegeneinander von Entlein und Schwan. Charlène ist besessen von Sarah: „Ich lebte wie aus zweiter Hand. Nichts konnte mich zur Vernunft bringen. Meine Besessenheit wurde von Tag zu Tag schlimmer.“ So sehr gerät Charlène an den Rand der kontrollierten Selbstauflösung, dass sie eines Tages zum Äußersten greift: „Langsam und lautlos griff ich nach dem Kopfkissen. Jetzt konnte mich nichts mehr aufhalten. Ich betrachtete sie ein letztes Mal. Gern hätte ich für einen Augenblick die Augen geschlossen, doch ich zwang mich, sie offen zu lassen. Ich musste alles in vollem Bewusstsein tun.“ Charlène bringt ihre Freundin um.

Es ist ein bestürzendes Buch, das Anne-Sophie Brasme mit eben sechzehn Jahren geschrieben hat. Doch ist das Interessanteste daran nicht die Geschichte selbst oder die totale Mitleidlosigkeit, in der Brasme sie erzählt. Interessant ist vielmehr, wie die Öffentlichkeit auf die junge Autorin reagiert hat. Seit „Dich schlafen sehen“ im vergangenen Herbst in Frankreich erschien und wochenlang die Bestsellerlisten besetzt hielt, hat sich das Feuilleton vor Enthusiasmus schier überschlagen. Dass Anne-Sophie Brasme eine außergewöhnliche Geschichte geschrieben, sie kühl konstruiert und spannend erzählt hat, steht in jeder Rezension – vor allem jedoch scheinen die Kritiker und Kritikerinnen sich daran zu erfreuen, dass die eigene Pubertät endlich vorbei ist und auf die sekundären Symptome einer anderen ungestraft zugegriffen werden kann. So erfährt man einiges über Anne-Sophie Brasmes „rosafarben getünchtes Mädchenzimmer“ oder ihren Duft nach „Aknepuder und Pfefferminzbonbon“, und im Spiegel entzückte man sich gerade erst über „dieses Mädchen“ und ihr „von braunen Strähnen gerahmtes, rundes Gesicht mit Schlupflidern“.

Kaum jemand hat davon absehen wollen, dass beide, Autorin und Protagonistin, dem dornigen Lebensalter der Pubertät entstammen.

Wie schlimm das alles wirklich ist, das weiß zwar keiner mehr so richtig, doch ruft die Gewalt, die von Brasmes Roman ausgeht, einiges zurück. Den klarsichtigen Blick auf das Scheitern der eigenen Eltern. Den Wunsch, überhaupt erst wahrgenommen zu werden. Das Bewusstsein einer Hierarchie, in der man selbst ganz unten steht: „Ich flehte sie an, mir eine letzte Chance zu geben. Ich hätte mein Leben für ihre Freundschaft hingegeben“, sagt Charlène über ihr Verhältnis zu Sarah.

All denen, die sich irgendwie gewünscht haben, dass Anne-Sophie Brasme über sich selbst geschrieben habe, dass sie vielleicht ebenso unscheinbar, asthmatisch und hilflos wie ihre Protagonistin Charlène sei, ist Brasme nicht mit Abwehr, sondern mit einem höflichen, wohlerzogenen, zuvorkommenden Freimut begegnet – und das ist das Zweite, das an der ganzen Geschichte interessant ist. Anne-Sophie Brasme würde es wahrscheinlich im Traum nicht einfallen, sich die bohrenden Fragen zu verbitten, das ständige Festnageln auf dem grausigen Wort Pubertät. Bei dem obligatorischen Frage-und-Antwort-Spiel im Anschluss an ihre Lesungen merkt man nichts von ihrem scharfen Sinn für die Abgründe des menschlichen Daseins, den sie in „Dich schlafen sehen“ so virtuos vorgeführt hat. Freundlich sagt sie stattdessen und immer wieder: Ja, genau, die vielen Fragen, das sei doch verständlich, sie sei nun einmal ein Teenager und teile daher Züge mit Charlène. Der Rest klingt gut zurechtgelegt und wie vom Kurs für kreatives Schreiben: Nach einer gewissen Zeit haben sich ihre jugendlichen Protagonistinnen selbstständig gemacht, ihre eigenen Launen entwickelt, denen sie nurmehr habe gehorchen müssen.

Dabei zählt für Anne-Sophie Brasme eigentlich gar nicht die Jugend, sondern das Alter. Oder vielmehr die Tradition. Brasme, jung, aber ernsthaft, mag sich nämlich weder mit den „Popliteraten“ identifizieren, die es offenbar auch in Frankreich gibt, noch hat sie ein Faible für jene exhibitionistisch angehauchten Bücher und Filme, mit denen einige ihrer Landsleute in den letzten Jahren auf sich aufmerksam gemacht haben. „Für mich ist das keine Literatur“, sagt sie ganz einfach. Proust und Gide hingegen! Das sei etwas ganz anderes. Und Camus’ „Fremder“ habe sie nachgerade zu ihrer Erzählung inspiriert. Dass einer ihrer Gymnasiallehrer sie für ihren Roman lobte – „très bon travail“, hat er gesagt –, erzählt Brasme vollkommen ironiefrei.

„Dich schlafen sehen“ hat Anne-Sophie Brasme in zwei Monaten daheim auf dem Computer geschrieben. Der Vater war von dem Buch angetan, die Mutter ist etwas erschrocken. Den Roman zu veröffentlichen war mehr Zufall als Planung. Heute gilt Anne-Sophie Brasme, der Frédéric Beigbeder einen freundlichen offenen Brief gewidmet hat, in Frankreich als viel versprechende Nachwuchsautorin – aber wie sie da so sitzt, in einem Berliner Hotel, begleitet von ihrer Agentin, erfolgsverwöhnt, doch immer noch in Teeniekleidung, achtzehnjährig und trotzdem schon Autorin eines erfolgreichen Romans, da wünscht man ihr, dass sie schneller älter wird. Und dass das Studium an der Sorbonne recht wild und gefährlich wird.

Anne-Sophie Brasme: „Dich schlafen sehen“. Goldmann, München 2002, 192 Seiten, 18 €

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