: Dusche schreibt man mit ‚u‘
Am Sonntag ist der weltweite „Alphabetisierungstag“. Seit über 20 Jahren bietet auch die Bremer Volkshochschule Kurse für Menschen an, die nicht Lesen und Schreiben können
„Mensch, Dusche schreibt man doch mit ‘u‘“, kichert Comfort und nimmt Franziska den Stift weg. Die Ghanaerin und die Brasilianerin sitzen mit acht anderen ausländischen TeilnehmerInnen in der Volkshochschule im Kurs „Alphabetisierung und Grundbildung“. Jeder hat die „Wortbox“ vor sich, eine Pappschachtel mit Karteikarten mit jeweils einem Begriff darauf, die in vier verschiedene Fächer eingeteilt ist. Je besser die Wörter beherrscht werden, desto weiter wandern die Karten nach hinten. Franziska hat schnell gelernt, viele müssen aber immer wieder ermahnt werden, weil sie die Karteikarten nach hinten räumen – obwohl sie die Begriffe noch nicht richtig schreiben können. Zwei Lehrer unterrichten die Gruppe. Die Methoden sind fast wie in der Grundschule, nur die Themen werden dem Erwachsenen-Alltag angepasst. Für deutsche Analphabeten gibt es sieben weitere Kurse an der VHS. Für sie ist der Druck noch höher als für die Migranten, endlich schreiben und lesen zu können. Kann doch jeder – oder?
Leider nicht. Allein in Deutschland gibt es vier Millionen Analphabeten, schätzen Experten. „Aber nur rund fünf Prozent nehmen die Angebote der Volkshochschule in Anspruch“, sagt Monika Wagner-Drecoll, die Leiterin der Alphabetisierungkurse. „Die anderen schlängeln sich irgendwie durch “, erklärt Wagener-Drecoll. Aber es wird mit fortschreitender Bürokratisierung und Computerisierung immer schwieriger, sich schriftlicher Prozesse zu entziehen. So sind die meisten Analphabeten auch angewiesen auf eine Person, die solche Aufgaben für sie übernimmt. „Solche Abhängigkeitsbeziehungen sind meist nicht einfach. Das haben wir besonders bei Mutter-Sohn-Verhälnissen festgestellt“, erzählt Wagener-Drecoll. „Wenn ein Sohn, der vielleicht schon seit 40 Jahren bei seiner Mutter lebt, durch den Unterricht immer unabhängiger wird, entstehen auf beiden Seiten Verlustängste. Oft beendet der Sohn sogar den Unterricht.“
Analphabetismus beruht auf einem Bündel von Faktoren, es beginnt mit einem Elternhaus, in dem Bücher keine große Rolle spielen. Der Knackpunkt liegt aber meist in den ersten beiden Jahren der Grundschule. Wagner-Drecoll: „Wenn ein Schüler sich in dieser Zeit nicht die Grundlagen des Lesens und Schreibens aneignet, dann ist es oftmals vorbei. Dann brechen viele die Schule so schnell wie möglich ab, weil sie mit der ganzen Plackerei nichts mehr zu tun haben wollen.“
Bei Einigen findet aber irgendwann im Leben ein Bruch statt. Dann wollen sie sich aus ihrer Abhängigkeit befreien. Bei Franziska aus dem Kurs für Ausländer war das auch so. Nachdem die Kinder aus dem Haus waren, nachdem sie sich vom Mann getrennt hatte, wurde ihr bewußt, dass sie die Dinge jetzt selbst in die Hand nehmen muß. Das tat sie auch mit dem VHS-Kurs. Und: „Mein neues Leben finde ich sehr schön.“ Charlotte Salow
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