: Todessprünge in Nahaufnahme
Praktisch alle Fernsehsender klotzen rund um den 11. September mit Dokumentationen zum Anschlag auf das World Trade Center vor einem Jahr: Viel Kitsch, viele grauenhafte Bilder. Tiefer gehende Auseinandersetzungen mit dem 11. 9. 01 sind selten
von ROLAND HOFWILER
Der Tag, der die Welt verändern sollte, das war ein wunderschöner Tag, wie aus dem Bilderbuch. Der Himmel strahlte tiefblau, in der Sonne spiegelten sich die Glasfassaden der Wolkenkratzer weich und freundlich, es wehte ein sanfter, angenehmer Wind in den Straßen von New York. Und die Menschen, die waren glücklich und zufrieden. Alle, die im World Trade Center arbeiteten, kannten keine Partnerprobleme, hatten nie Stress mit dem Chef, sie machten alle Karriere oder standen kurz vor der Heirat.
Der Film „Ground Zero – Geschichten vom Überleben“ ist Kitsch pur – und eklig (Sa., Südwestfernsehen, 20.15 Uhr und auf Nord 3, innerhalb der Reihe, „Die lange Nacht zum 11. September, ab 23.25 bis 3.45 Uhr).
Herzensgute Menschen
Die Dokumentation ist eine einzige lange Aneinanderreihung von Zeugenaussagen unmittelbar Betroffener, unterbrochen von grauenhaften Bildern, ohne Reflexion, ohne Sinnlichkeit. In Nahaufnahmen sieht man, wie sich Verzweifelte aus den Fenstern der Doppeltürme in den Tod stürzen, dann Schnitt, es folgt ein Interview: „Der 11. September war genau der Tag, an dem ich am Nachmittag mit meinem Verlobten Andy mein Hochzeitskleid anprobieren wollte“, erzählt unter anderem die junge Frau Rachel Uchitel und ergänzt im gleichen Atemzug: „Andy war ein so herzensguter Mensch, er arbeitete im 104. Stock, er war im Finanzgeschäft tätig und verdiente viel Geld.“ Mehr erfährt man nicht über die junge Frau. Hat sie den Schock heute überwunden, lebt sie mit einem neuen Partner zusammen, oder leidet sie noch immer unter schweren Depressionen. All das, was menschlich wäre, wird in dem Film ausgeblendet.
Eine Österreicherin, die das Filmteam ausfindig macht, wird kurzerhand in die Rolle einer frommen Katholikin gepresst – und basta. Uschi Ülzhöffer, Mutter von drei Kindern, erzählt vor der Kamera, wie ihr Mann an jenem Tag um „fünf Uhr aufstand, erst die Bibel las und dann zur Arbeit ging“. Danach hat sie ihn nie wieder gesehen, und seitdem liest sie die Bibel allein.
Näher dran
Auf ähnlich niedrigem Niveau spielen die Dokumentation „Persönliche Schicksale in den USA“ (n-tv, Sa., 10.15 Uhr mit mehrfacher Wiederholung) und die ZDF-Produktion „Das Drama der Überlebenden“ (ZDF, Di., 22.15 Uhr). In beiden Filmen wird fast minutiös der Terrorangriff auf die Doppeltürme dargestellt, mit „sensationellem Bildmaterial“ (Eigenwerbung), was heißen soll: mit Nahaufnahmen, wie Menschen in den Tod springen, und mit schrecklichen Szenen von denen, die dem Höllenschlund in letzter Sekunde entkommen konnten.
Am Jahrestag selbst, am kommenden Mittwoch um 14 Uhr, werden ARD, ZDF und Phoenix live zu den Gedenkfeiern vom „Ground Zero“ nach New York schalten und vor das Pentagon in Washington. Angereichert werden die Sondersendungen durch Gespräche und Reportagen mit Augenzeugen und Überlebenden. Ebenfalls live dabei sind auch die Nachrichtensender n-tv und N 24, die in zahlreichen Expertenrunden auch die politischen Auswirkungen ein Jahr danach beleuchten wollen. Höhepunkt für die ARD ist dann am Abend (20.15 Uhr) der Dokumentarfilm der Brüder Gédéon und Jules Naudet, die den Anschlag im World Trade Center unmittelbar miterlebten. Der Film wird in 142 Ländern ausgestrahlt werden – angeblich als das Zeitdokument schlechthin.
Ein Lichtblick im 11.-September-Overkill ist der viel beachtete Spielfilm „Reise nach Kandahar“ (ZDF, So., 0.55 Uhr und 3sat, Mi., 22.25 Uhr), der die politische und soziale Lage Afghanistans vor der Zerschlagung des Taliban-Regimes ins Gedächtnis rufen möchte. Der iranische Filmemacher Mohsen Makhmalbaf erzählt darin die Geschichte einer in Kanada lebenden afghanischen Journalistin, die unter abenteuerlichen Umständen in ihr Heimatland reist, um ihre Schwester vor dem Selbstmord zu retten. Ein ruhiger Film, und sensibel vor allem.
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