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stefan kuzmany über AlltagKein Entkommen in den Alpen

Die kurze Geschichte des Mannes, der erst auf einen Berg hinauffuhr und dann von einem Berg wieder hinabfuhr

Die ganze Fahrt über regnete es. Zunächst nur leicht, dann immer stärker – als ich fast schon in Österreich war, so stark, dass der Scheibenwischer selbst in der schnellsten Einstellung keine Verbesserung der Sicht mehr herstellen konnte.

Vielleicht doch keine ganz so gute Idee, diese Reise. Zumal es mit der Fahrt noch längst nicht getan sein würde: eine Stunde Fußmarsch, mindestens, hatte Josef in seiner Wegbeschreibung geschrieben. Es war fast siebzehn Uhr, als ich die Grenze passierte. Die Landschaft wurde alpiner, doch die Fahrt zog sich hin. Zumal man mir, zum Abschied in den Urlaub gewissermaßen, in Berlin-Neukölln noch in der letzten Nacht das Autoradio geklaut hatte.

Ha, Berlin! Ich werde ihm entkommen, wenigstens für einige Tage. Nicht mit der Nachbarin über Mülltrennung diskutieren. Nicht Polizeibeamte davon überzeugen müssen, dass es sich doch gar nicht lohnt, das Auto abzuschleppen. Nicht durch das Bürofenster die Küchendünste vom Italiener im Erdgeschoss einatmen. Sondern: Ruhe. Berge. Einsamkeit. Sehr gut.

Statt des geklauten hatte ich mir ein altes, batteriegetriebenes Radio mitgenommen und auf dem Beifahrersitz gelegt. Es hatte einmal meiner Großmutter gehört. Man kann damit nur den Bayerischen Rundfunk empfangen, das zweite Programm: Nachrichten und zünftige Musik. Je näher ich den Bergen kam, desto rauschiger wurden die Klänge der Stubenmusi. Beinahe wäre ich an der Abzweigung vorbeigefahren.

Nach dem kleinen Dorf Weißbach bei Lofer ging es scharf links den Berg hinauf. Jetzt gab es gar keinen Empfang mehr, so sehr ich auch mit der rechten Hand am Radioknopf drehte – nur noch Rauschen. Ich brauchte beide Hände zum Lenken. Die Straße war schmal und kurvig. Und feucht. Zum Glück regnete es jetzt nicht mehr ganz so stark.

Endlich erreichte ich den von Josef beschriebenen letzten Parkplatz. Er war fast leer. Ich begann den Aufstieg zur Alm, auf der Josef jetzt seit bald drei Monaten seine Zeit mit den Kühen verbrachte. Es nieselte, ich schwitzte. Kein Mensch begegnete mir auf dem Weg, nur einige Kühe grasten im fahlen Abendlicht. Ein kleiner Wasserfall plätscherte. Ein riesiger Findling ragte auf. Es war wunderbar. Einsam. Wie es sein sollte.

Ich erreichte die Alm gegen neunzehn Uhr. Josef öffnete die Türe. Wir begrüßten uns. „Ich habe heute schon Besuch bekommen“, sagte Josef und wies mich in die Stube. Da saß sie. Sie hieß Tanja.

Ich hatte Tanja vor etwa zehn Jahren kennen gelernt, in einer Wohngemeinschaft von Freunden. Seit sie eingezogen war, war es dort ungemütlich geworden: Ihr war es ständig zu laut. Zu wenig aufgeräumt. Der Müll zu wenig getrennt. Gäste waren unerwünscht. Ich ging nicht mehr hin. Vormals gute Freunde zerstritten sich. Bald war es vorbei mit der WG. Ich hatte sie seither nicht mehr gesehen. Dass und woher sie Josef kannte, war mir rätselhaft.

„So ein Zufall“, sagte ich.

„Stimmt“, sagte sie.

Mehr hatten wir uns eigentlich nicht zu sagen. Zum Glück bereitete Josef gerade einen Schweinsbraten zu und plapperte dabei ständig vor sich hin. Nach dem Essen sagte Tanja: „Du musst auch mal meinen Standpunkt verstehen.“ Aber darauf hatte ich keine Lust. Es war ungefähr zehn Jahre zu spät, um mit ihr über Mülltrennung und Gastfreundschaft zu diskutieren.

Am nächsten Tag war das Wetter besser, beim Abstieg kamen mir scharenweise Wanderer entgegen. Vor mir ging eine Kuh. Sie schiss im Gehen. Der majestätische Findling wurde gerade von zwei Kletterern in Neonanzügen erklommen. Am Fuß des Wasserfalls trieb eine Zigarettenkippe im sprudelnden Wasser. Der Parkplatz war voll. An meiner Windschutzscheibe war ein Zettel angebracht: Ob ich denn den Parkautomaten übersehen hätte? Ich möge doch bitte drei Euro nachzahlen. Ein Parkautomat? Tatsächlich.

Wenigstens war das Radio noch da. Wundersamerweise hatte es Empfang. In den Nachrichten war gerade die Rede von Berlin. Ah! Berlin! Auch nicht so schlecht.

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