„Ich mag MTV nicht mehr“

Ray Cokes feiert seit einem Jahr ein Comeback in Frankreich. Ein Gespräch über die Sendung „MTV’s Most Wanted“, die europäische Idee im Fernsehen und seine Show „Music Planet 2Nite“ auf Arte

„Die Musikindustrie brauchte schon Veränderungen, als ich noch Punk war“

Interview: MATTHIAS HANNEMANN

taz: Mr. Cokes, Sie waren einmal eine MTV-Galionsfigur. Wie oft schalten Sie denn selbst den Musiksender noch ein?

Ray Cokes: Eigentlich schaue ich MTV, wie es die meisten Leute machen – wenn ich in einem Hotelzimmer bin, 15 Fernsehprogramme habe, aber nur eines davon verstehen kann. Daheim in Paris, wo ich jetzt wohne, schalte ich es ein, um auf dem Laufenden zu bleiben. Aber ich mag es nicht mehr.

Warum nicht?

MTV hat seine Identität verloren und ist endgültig zu einer Art McDonald’s geworden. Es gibt nichts Neues, nichts Spannendes. Die Moderatoren sehen toll aus und haben doch nichts zu sagen. Früher, vor knapp 15 Jahren, war das alles viel avantgardistischer: Wir wollten anders sein. Heute sehen alle anderen Programme aus wie damals MTV. Der Sender selbst hingegen ist zu einer Jukebox verkommen. Was für eine Verschwendung! Spannende Shows liefert einzig noch MTV in den USA.

Anders gesagt: Sie möchten also nicht zu MTV zurück?

Als der Sender neulich eine Dokumentation über seine Anfänge sendete, hagelte es E-Mails von Fans, die mich wieder sehen wollten. Ich habe mich sehr gefreut, zumal es die Technik heute erlaubt, dass ich dank des Internets direkt in Kontakt mit den Leuten treten kann; bei meiner damaligen Sendung „Most Wanted“ gab es ja nur Briefe und Faxe. Aber ich habe den Mails auch entnommen, dass MTV bei den Leuten nicht mehr ankommt. MTV ist – nichts. Der Sender ist Teil der Kultur, anstatt Kultur neu zu definieren. Ich würde nur zurückgehen, wenn MTV wieder europäische Sendungen machen würde: MTV Deutschland, UK oder Skandinavien interessieren mich nicht.

Lässt sich denn auf Arte, wo Sie seit einiger Zeit die Sendung „Music Planet 2Nite“ moderieren, Kultur „neu definieren“?

Bei Arte bin ich nur ein Chauffeur, der an der Musiklandschaft entlangfährt und den Gästen vor dem Fenster zeigt, was ich schön und interessant finde. Und für die Bands bin ich nur noch der Kerl, den sie brauchen, um mit den Zuschauern vor den Fernsehern sprechen zu können. Ich bin also nur noch ein großer Musikfan, der „Hello“ sagt und „Good bye“.

Welche Musik gefällt Ihnen denn heute noch?

Das Geschäft wird immer zynischer, dreht sich immer stärker nur ums schnelle Geld, um junge und unverbrauchte Gesichter. Zu Recht könnten Sie jetzt antworten, dass es das früher ja auch schon immer gab. Der Unterschied aber ist, dass man heute kaum noch junge Bands sieht, deren Plattenfirma zwei Durchschnittsalben und damit eine wirkliche „Karriere“ zulässt. Die beste Musik kam schon immer von Bands, die frustriert in irgendeinem Keller hockten und zu viele Drogen nahmen. Ein Genie wie David Bowie, der anfangs kaum Platten verkaufte, würde heute kaum gefördert werden. Und so schaffen es nur noch wenige Bands wie „Radiohead“ oder „Prodigy“, ihren eigenen Stil durchzusetzen.

Das Internet bietet ja die Möglichkeit, eine direkte Verbindung zwischen Künstlern und Fans herzustellen und die Musikindustrie dabei außen vor zu lassen. Besteht darin nicht eine Chance?

Der Verkauf von Musik im Internet wird doch auch immer stärker von der Industrie dominiert. Ich liebe es, MP3-Dateien kreuz und quer durch die Welt zu schicken. Das ist nicht in Ordnung. Wir müssen wieder Geld in die Musik investieren. Wenn es das Internet schaffen sollte, das Geld wieder zurück zu den Künstlern zu bringen, wäre das sicherlich fantastisch – und billiger für uns Musikfans.

Warum machen Sie eigentlich keine Musikshow im Internet? Würde das funktionieren?

Ich habe es vor drei Jahren bereits versucht, doch das war zu früh. Solange noch Leute mit 56K-Modems und nicht mit Breitbandverbindungen durchs Netz surfen, wird das nicht funktionieren. Ich habe mir den Domain-Namen „Fridaynetlive“ aber gesichert und werde geduldig warten. Denn das Internet ist der einzige Platz für alle Menschen, die sich nicht von oben gängeln und einschränken lassen wollen. Das Tolle an „MTV’s Most Wanted“ war, dass wir noch vor dem Internet Jugendliche in ganz Europa miteinander verbunden haben.

Auch Musiksender wie MTV und Viva setzen doch heute verstärkt auf Interaktives.

Ja, aber diese Sender arbeiten nur noch auf lokaler Ebene, was theoretisch natürlich toll wäre, um kleine Bands im lokalen Rahmen bekannt zu machen. Doch auch hier regiert das Geld. Ist es in einer Zeit, in der man für 20 Euro von hier nach Australien fliegen kann, nicht sehr absurd, dass Europas Musik nur über den „Grand Prix de la Chanson“ miteinander spricht? Das würde ich gern ändern. Die Geschäftsleute in den Chefetagen der Sender glauben nicht an eine europäische Idee.

Arte hingegen scheint daran zu glauben?

Ich weiß nicht. Arte ist ein wirklicher Kultursender – intellektuell, ohne versnobt zu sein. Die besten Intellektuellen sind die, die ihr Wissen teilen möchten.

Sind Sie also jetzt ein Intellektueller geworden?

Nein, das ist für mich unmöglich. Man schlug mir zunächst vor, tiefgründiger aufzutreten. Aber das könnte ich nicht. Ich möchte die Musik und die Künstler respektieren, nicht hochnäsig kritisieren. Arte lässt es zu, dass eine ganze Stunde Livemusik gesendet und nur von ausführlichen Interviews unterbrochen wird – wo gibt es das denn noch? Ich bin sehr stolz auf die Sendung. Und sie passt zu mir, auch wenn ich nicht mehr ganz so viel herum toben darf wie früher.

Hoffen Sie, mit dieser Sendung der Branche neue Impulse geben zu können?

Im Alter von über 40 Jahren hat man zu akzeptieren gelernt, dass man nicht alles ändern kann. Aber man kann mithelfen, Dinge ein wenig zu verändern. Denn das ist nach wie vor nötig: Die Musikindustrie brauchte schon Veränderungen, als ich noch Punk war.