: „Jede Art Gemeinsinn geht verloren“
In Russland begünstigen die Folgen des 11. September einen zivilisatorischen Rückschritt ganz eigener Art: Präsident Putin sieht sich ermutigt in seinem Bestreben, die Gesellschaft gleichzuschalten und in sowjetische Unterwürfigkeit zurückzuführen
Interview KLAUS-HELGE DONATH
taz: Herr Ryklin, im Westen heißt es, der 11. September habe die Welt verändert. Gilt das auch für Russland, dessen Wesen Katastrophen eigentlich nie viel anhaben konnten?
Michail Ryklin: Der 11. September hat gezeigt, wie weit Politiker und europäische Intelligenz in der Einschätzung des Ereignisses und der Rolle der USA voneinander entfernt sind. Philosophen wie Baudrillard, Virilio und Boris Groys deuten das Geschehen als Problem innerhalb einer globalisierten Welt, das die Frage aufwirft, ob wir einen Feind benennen und beschreiben können, ob sich eine Grenze ziehen lässt, hinter der das Andere beginnt, das uns attackiert. Keiner bestreitet, dass sich die Welt in einem Kriegszustand befindet. Die Politik hatte den Feind im Nu ermittelt, konnte ihn aber weder lokalisieren noch dingfest machen. Es dauerte dann auch eine gewisse Zeit, bis der US-Regierung dämmerte, dass Präsident Bush vielleicht dann doch nicht jene himmlische Instanz sei, die „unendliche Gerechtigkeit“ als Kreuzzügler hätte über die Welt bringen können.
Dieser Anschlag bediente alle Codes der Mediengesellschaft. Er hat den Diskurs der internationalen Organisationen, der bisher vom Westen im Sinne eines belehrenden Aufklärers geführt wurde, nachhaltig verändert. Das verfängt bei den Adressaten nicht mehr. Und zum ersten Mal musste das amerikanische Medienimperium alle Ressourcen nutzen, um ein eigenes Trauma zu bearbeiten. In Manhattan, wo jeder Vorgang von unzähligen Kameras überwacht wird, setzte eine archaische Suche nach einem Feindbild ein.
Hat der blutigste Terroranschlag in der jüngeren Geschichte den Begriff des Terrors entschärft?
Das Verständnis von Terror hat sich in der Tat verengt. In der Französischen Revolution und im roten Terror der russischen Revolution war der Staat immer die eigentliche Terrorinstanz – eine Sicht, die heute völlig ignoriert und ausgeklammert wird. Terroristen sind inzwischen kleinere Grüppchen, die wie Araber aussehen und muslimischen Glaubens sind. Ich halte das für einen zivilisatorischen Rückfall, der einen epochalen Einschnitt markiert, dessen Folgen sich nur ganz allmählich abzeichnen werden.
Auch das Netz der Verbote wächst beharrlich. Wie sich das auf die USA auswirkt, deren innerstes Selbstverständnis gerade im Fehlen von Verboten, dem „Anything goes“, besteht, bleibt abzuwarten. Klar ist: Die Trauerarbeit hat Folgen. Jedes Verbot verursacht immense Kosten und riesige Verluste. Die ungezwungene Art, das Legere und Hemmungslose waren doch die Grundlagen des wirtschaftlichen Erfolgs der USA. Selbst die USA können es sich wohl nicht erlauben, Trauer und Verbote überall einsickern zu lassen.
Im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten ist Russland eine Hochburg der Bannsprüche, daher will bei uns auch niemand investieren, obwohl die Politik alles versucht, um Investoren zu gewinnen. Das Kapital weiß, was ihm nicht bekommt. Die Auswirkungen werden wir erst in einigen Jahren zu spüren bekommen.
Kunsttheoretiker Boris Groys vergleicht übrigens die kompromisslose Gewalt der Terroristen mit Erscheinungen in der modernen Kunstszene, die einen Einsatz von Gewalt auch dann nicht ablehnen, wenn ihm das Attribut Kunst versagt bleibt. Vielleicht sind das Signale.
Amerika hat sein Leid verallgemeinert und vorausgesetzt, jeder werde mittrauern. Russland tat sich schwerer als andere, obwohl Putin der Erste war, der Bush sein Beileid aussprach.
Auch das ist einmalig. Nach Katastrophen in anderen Welten wäre diese Form der kollektiven Trauerarbeit wohl kaum denkbar gewesen. Darin zeigt sich, wie der 11. September zur Apokalypse erhöht wurde. Amerika klagt an und vergibt gleichzeitig: Der Krieg in Tschetschenien ist auf einmal vergessen; Menschenrechtsverletzungen sind plötzlich keine mehr. Wer anders denkt, läuft dabei Gefahr, unter die Räder zu geraten. Wer zu Behutsamkeit mahnt, macht sich verdächtig. Wer auf Meinungsfreiheit beharrt, setzt sich dem Extremismusverdacht aus. Es beunruhigt, dass auch in den USA die Bereitschaft zur Differenzierung zumindest vorübergehend außer Kraft gesetzt worden ist. Langfristig könnten die USA an Anziehungskraft verlieren und ihre Bedeutung als Synonym für den Westen einbüßen.
Bushs Simplifizierungen haben den Dialog mit Russland aber erheblich erleichtert.
Das hiesige Regime hat von den Ereignissen profitiert. Putins wichtigstes Ergebnis: Der im Kaukasus verübte Staatsterrorismus wurde über Nacht zu einer Verteidigung übergeordneter westlicher Werte. Kritische Fragen schmettert Moskau selbstbewusst ab: Was machen wir denn anders als die Amerikaner in Afghanistan? Israel verfährt übrigens ähnlich. Unterdessen wütet die Armee in Tschetschenien blutrünstiger denn je zuvor. Es wäre ein Wunder, sollte sich diese Unmenschlichkeit nicht auf das Wertegefüge auswirken. Darüber hinaus lässt man Autokraten in den kaukasischen und zentralasiatischen GUS-Staaten widerspruchslos gewähren. Innenpolitisch hat der Schulterschluss mit dem Westen verheerende Folgen: Vor dem Hintergrund der Antiterrorallianz werden in Russland systematisch die Wurzeln der zivilen Gesellschaft eliminiert. Die dafür zuständigen Kräfte sind überaus aktiv und mobil. Wo sich etwas Selbstständiges regt, dessen darf man sicher sein, dort tauchen irgendwann auch die Sensenmänner auf. Der Geheimdienst legt sich mit jeder organisierten Kraft an – eine Strategie, die der inneren Logik des Geheimdienstes entspricht. Nehmen wir mal den Fall einer Gruppe von fünf Studenten, die eine Broschüre herausgibt mit dem Titel „Zurück zu Lenin“. Eigentlich wäre das ein Grund zum Schmunzeln. Die „Organe“ nehmen es todernst und verfolgen nicht nur die Studenten erbarmungslos, sie sorgen auch dafür, dass sie zu hohen Haftstrafen verurteilt werden.
In der Jelzin-Zeit war eine sich langsam selbst organisierende zivile Gesellschaft entstaden, es regte sich politisches Leben außerhalb der Kremlmauern. Inzwischen wird das mit unnachgiebiger Härte bekämpft und unterdrückt. Dass daraus erhebliche Steuerungsprobleme für die Gesellschaft erwachsen, will der Kreml nicht begreifen. Die Macht verwandelt die Gesellschaft in ein amorphes Gebilde. Eine Masse, in der jegliche Selbstverantwortung liquidiert wurde, leistet zwar keinen Widerstand mehr, was aus der Perspektive von Geheimdienstlern entscheidend ist; so ein Haufen lässt sich aber auch nicht mehr effektiv lenken und verwalten. Trägheit und Gleichgültigkeit machen sich breit, jede Art von Gemeinsinn geht verloren und spontane Selbstheilungskräfte versagen. Dennoch sitzt die Macht – wie immer in Russland – dem tragischen Trugschluss auf, gleichgeschaltete Gesellschaften seien einfacher zu regieren. Aber im Gegenteil: Ab einem bestimmten Punkt versinken sie im Chaos.
Ordnungsaufwendungen in Russland, scheint es, stehen immer in einem umgekehrten Verhältnis zum Ertrag. Je mehr Anstrengungen, desto größer die Unordnung.
Die Folgen der Putin’schen „Machtvertikale“ zeigen sich schon jetzt: Den Gouverneuren in den Regionen entriss das Zentrum erst die Macht, dann das Geld. Viele sind gar nicht unglücklich darüber. Klappt etwas nicht, verweisen sie auf Moskau und Präsident Putin, ob die Wasserleitung defekt ist oder Renten nicht gezahlt wurden. Apathie ist weit verbreitet. Zwar schätzt die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung den Kremlchef. Fragt man indes nach, geben die meisten unumwunden zu: Wahlen? Wozu? Lasst uns mit diesem Theater doch in Ruhe. Es sind eure Abgeordneten, eure Strukturen, das geht uns nichts an. Ob an den nächsten Wahlen die erforderlichen 25 Prozent teilnehmen? Ich bezweifle, dass die Politik des Kreml – „Ich bin der starke Vater und ihr seid meine schwachen, willenlosen Kinder“ – die richtige Strategie für das 21. Jahrhundert ist. Ich sehe schon den Tag kommen, an dem Eltern ihren Kindern raten, im Fach Putinologie nicht für bare Münze zu nehmen, was in den Büchern steht. Sie können dabei noch auf Erfahrungen aus Sowjetzeiten zurückgreifen, wohin wir gerade wieder aufbrechen.
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