: Desertiert ganz ohne Krieg
54 junge russische Soldaten ziehen unbewaffnet nach Wolgograd. Der Protestmarsch soll vermutlich auf physische Misshandlungen in der Armee aufmerksam machen
MOSKAU taz ■ Desertionen sind in der russischen Armee keine Seltenheit. Dass auf einen Schlag gleich 54 Soldaten den Dienst unerlaubt quittieren, war aber bisher selbst in den skandalanfälligen russischen Streitkräften noch nicht vorgekommen. Die Soldaten machten sich gestern unbewaffnet und zu Fuß auf den Marsch in die Gebietshauptstadt Wolgograd.
Bewaffnete Deserteure können in Russland nicht mit Nachsicht rechnen und werden meist „auf der Flucht“ erschossen. Bei 54 Unbewaffneten wäre die Staatsanwaltschaft aber in erhebliche Erklärungsnot geraten. Stattdessen geschah ein Wunder: Die Militärstaatsanwalt im ehemaligen Stalingrad nahm sich sofort der Beschwerde der Wehrdienstleistenden an und leitete gegen deren Vorgesetzte Untersuchungen ein.
Was die Soldaten zur Flucht bewegt hat, darüber hüllen sich die Verantwortlichen in Schweigen. „54 Wehrdienstleistende verließen ihren Stützpunkt und wollten damit die Militärstaatsanwaltschaft um Hilfe bitten“, heißt es in einer Stellungnahme der Untersuchungsbehörde. Anzunehmen ist, dass die jungen Männer gegen massenhafte Misshandlungen und Erniedrigungen durch Vorgesetzte protestieren wollten.
Die Praxis der „Dedowschtina“ – die physische Misshandlung jüngerer Soldaten durch Vorgesetzte – ist von jeher ein gravierendes Problem der Armee. Das Komitee der Soldatenmütter geht davon aus, dass mindestens 3.000 Wehrdienstleistende jedes Jahr durch die Hand von älteren Militärs sterben – entweder durch äußere Gewaltanwendung oder durch Freitod.
Die Armeeführung schiebt die Schuld auf die zunehmend schlechtere gesundheitliche und psychische Verfassung der Soldaten. 17 Prozent der frisch Einberufenen leiden demnach an psychischen Deformationen, 11 Prozent sind harte Alkoholiker, und mindestens 5 Prozent treten in die Armee nach schweren Kopfverletzungen ein. Die meisten Soldaten entstammen sozial schwachen Familien aus der Provinz, da, wer es sich sonst leisten kann, seine Söhne vom Militärdienst freikauft.
Erst Ende August hatten zwei Deserteure acht Grenzsoldaten an der russisch-georgischen Grenze erschossen. Bisher sind die Hintergründe nicht geklärt. Die Verschleierung der wahren Gründe deutet darauf hin, dass auch hier Misshandlungen mit im Spiel waren. Zunächst hatten die Verantwortlichen versucht, den Mord aus Georgien eingesickerten tschetschenischen Rebellen in die Schuhe zu schieben. Es hätte vortrefflich in die politische Großwetterlage gepasst … KLAUS-HELGE DONATH
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