: „Ich dachte: ‚Das gibt Krieg!‘ “
Ungläubig, betroffen, geschockt – so erlebten MitarbeiterInnen der taz den 11. September
von NICOLE KUHN
Der 11. September 2001 war ein nachrichtenarmer Tag. Die ChefInnen vom Dienst suchten noch am frühen Nachmittag fieberhaft nach einem Aufmacher für die Titelseite. Selbst die ersten Ticker über das Flugzeug und das World Trade Center sorgten nicht für Aufregung. Niemand ahnte, dass eine große Passagiermaschine in einen der Türme gerast war. Zu unpräzise waren die Informationen. Viele dachten: Ein Sportflugzeug. Selbst als feststand, dass eine Passagiermaschine das Hochhaus gerammt hatte, waren die RedakteurInnen skeptisch. Unglücke sind keine taz-Themen.
Diesmal doch. Die eingeschalteten Bildschirme zeigten ein qualmendes Riesenloch im dritthöchsten Haus der Welt. Dann krachte ein weiteres Flugzeug in den zweiten Turm. Jetzt lief überall im Rudi-Dutschke-Haus CNN.
14:57:09 (Eil) Flugzeug ins World Trade Center abgestürzt (dpa)
Auf den Computerbildschirmen jagte eine Eilmeldung die nächste. Auf den Monitoren der RedakteurInnen blitzen die „Eil“s auf. Die Nachrichtenleute konnten die Meldungsfenster gar nicht so schnell wegklicken, wie sich neue öffneten. Die tazler reagierten – ungläubig, betroffen, geschockt. Ein Unglück oder ein Terroranschlag? Wer sind die Täter – Muslime oder der US-Geheimdienst? Ist das ein geplanter Anschlag oder eine irreale Show? Was bedeutet all das? – Es bedeutet Krieg!, mutmaßte eine Redakteurin schon sehr bald in die Runde.
14:57:20 WORLD TRADE CENTER IN NEW YORK BRENNT NACH AUFPRALL VON FLUGZEUG (REUTERS)
„Als es zuerst hieß, eine Cessna sei ins WTC geflogen, habe ich nur gesagt: ‚Donnerlittchen, was für ein Idiot stürzt so ein Flugzeug da rein?‘ “, erinnert sich Reiner Metzger aus der Öko- und Wirtschaftsredaktion. „Es war dann aber schnell klar, dass es eine Passagiermaschine war. Und ein Anschlag.“
14:58:30 +++ Dringend +++ Flugzeug stürzt auf World Trade Center in New York (AFP)
In der Meinungsredaktion schaltete Dietmar Bartz den Fernseher an. „Irgendwie habe ich nicht verstanden, wie das sein konnte. Ich habe ständig auf eine Wiederholung gewartet. Das Loch sah durch die Kameraperspektive so klein aus. Ich habe nicht im Entferntesten an einen Anschlag gedacht.“
14:59:45 Eil Flugzeug auf World Trade Center gestürzt (AP)
Zwei Mitarbeiterinnen aus dem Vertrieb waren gerade bei einem Zeitungsgroßhändler. Der wurde, als ihn ein Anruf informierte, blass. Er sagte es den tazlerinnen. „Wir müssen zurück. Da muss aktualisiert werden!“, war ihr erster Gedanke. Ihr zweiter: Die Auflage hochsetzen! Sie machten sich schleunigst auf den Weg ins Verlagsgebäude.
15:03:22 (ÜBERBLICK) Flugzeug ins World Trade Center gestürzt, meldet CNN. Es sei eine zweimotorige Maschine gewesen, hieß es.
In der Kulturredaktion beschäftigte sich Dirk Knipphals gerade mit Armut in den USA. Da kam ein Kollege rein und sagte: „Da ist ein Flugzeug ins WTC reingeflogen, sieht geil aus.“
15:10 (Eil Eil) Flugzeug ins World Trade Center gestürzt – zweite Explosion (dpa)
Niels Kadritzke von Le Monde diplomatique war an jenem Tag zu Hause. Er kam nichts ahnend ins Zimmer: „Mein Neffe schaute im Fernsehen zu, wie die Flugzeuge in den Tower reinflogen. Meine erste Reaktion war: ‚Musst du schon nachmittags um 15 Uhr deine Computerspielchen spielen?‘ “
Auch die Auslandsredaktion der taz saß vorm Fernseher. „Jeden Tag haben wir mit Kriegen und Unglücken zu tun, die viele Opfer fordern, daher habe ich es erst zynisch abgetan“, erinnert sich Redakteur Sven Hansen. „Aber beim zweiten Flugzeug stand fest, dass es ein ungewöhnlich großes Ereignis war. Als ich Menschen in den Tod springen sah, verging mir der Zynismus. Die dramatischen Bilder hätte kein Hollywood-Mensch besser inszenieren können, die Realität übertraf Hollywood.“
15:27 (Eil – Überblick) Zwei Flugzeuge in World Trade Center gerast – Anschlag vermutet (dpa)
„Ich habe irgendwie schon beim ersten Flugzeug geahnt, dass es ein Anschlag ist“, sagt Jan Feddersen aus dem taz-mag. „Solche Unfälle gibt es nicht. Und alles, was danach kam, bewegt sich für mich im Bereich des Unfassbaren.“
Auch im Berlinteil hörten die Redakteure von den Anschlägen. Robin Alexander dachte, wie die Vertriebsleute, strikt professionell: „Mein erster Gedanke war: ‚Aktualisieren wir auch die Titelseite des Berlinteils?‘ Außerdem war zu der Zeit Wahlkampf in Berlin und ich habe gedacht: „Jetzt interessiert sich keiner mehr dafür, sondern alle reden nur noch über die Anschläge und die Araber.‘ “
Gereon Asmuth, Chef vom Dienst im Berlinteil, bekam um 15 Uhr einen Telefonanruf vom Cheflayouter. Der Lokalteil, sagte der, müsse pünktlich fertig werden, weil ein Flugzeug ins WTC geflogen sei. „Meine erste Reaktion war: ‚Der will mir auf witzige Weise sagen, es gibt mal wieder Probleme mit der Druckerei.‘“
15:30 +++ Dringend +++ US-Vertreter: Offenbar Terroranschlag auf WTC – Tote und Verletzte (AFP)
Steffen Grimberg, Redakteur in der Medienredaktion, bekam einen Anruf von einem Kollegen, der ohne weiter etwas dazu zu sagen meinte: „Mach mal den Fernseher an.“ – „Als ich es sah, war mir klar, dass es etwas Besonderes sein musste. Ich konnte mir auch schwer vorstellen, dass die Flugzeuge ohne Absicht in den Tower geflogen sind. Allerdings habe ich mich darüber gewundert, dass die Türme so wenig stabil waren. Ich hatte nicht erwartet, dass die zusammenkrachen. Das war unerwartet.“
16:03 Flugzeug auf US-Verteidigungsministerium gestürzt (Reuters)
„Früher hab ich mit meinem Nachbarn im Fernsehen Golfkrieg geguckt. Der stammte aus Zentralamerika und hasste die ‚Gringos‘. Der hat immer gesagt, wenn es mal einer schafft, eine Bombe aufs Pentagon zu werfen, wär das was“, erzählt Wirtschaftsredakteurin Katharina Koufen. „Mein erster Gedanke war: ‚Jetzt hat es mal einer geschafft.‘ “
Viele begriffen erst später, was da passierte. Alles hatte einen irrealen Touch.
„Ich habe die ganze Sache zunächst als Show wahrgenommen. Als das dritte Flugzeug ins Pentagon reingeflogen ist, habe ich mir sogar gewünscht, dass es so weitergeht. Der Schockmoment kam später“, so auch Dirk Knipphals.
16:13 Einer der beiden Türme des World Trade Center eingestürzt (Reuters)
„Ich war im Café. Vorher hatte ich ja schon von den Anschlägen mitbekommen. Im Café lief auch der Fernseher. Plötzlich schrien die Leute, und ich sah nur eine Rauchwolke im Fernseher. Ich habe dann den Kellner gefragt: ‚Ist der Turm eingestürzt?‘ Der konnte gar nicht antworten“, erinnert sich Bildungsredakteur Christian Füller.
16:30 + + + Dringend + + + Zweiter Turm des World Trade Center eingestürzt (AFP)
16:40 Sicherheitsmaßnahmen nach Anschlag in USA in Berlin massiv verschärft (ddp-bln)
„Ich hatte Angst, dass so was auch in Berlin passiert. Mein Sohn geht beim Innenministerium in den Kindergarten. Ich habe gedacht, dein Kind ist jetzt da“, so Katharina Koufen.
Langsam stieg die Beklemmung und Angst.
Auch Ulrike Winkelmann, damals Chefin vom Dienst, spürte sie: „Erst dachten wir: Ball flach halten. Ist bestimmt nur ein Unfall. Eine Nachricht, aber ein Knaller? Als dann ein weiteres Flugzeug in das Pentagon stürzte und ein viertes vermisst wurde, kam langsam das Gefühl auf, dass es ein Komplott war, das auch uns treffen könnte.“
17:21 Flugzeug nahe Pittsburgh abgestürzt (AFP)
„Die Dimension des Anschlags hat die Grenzen sicher nicht nur meiner Vorstellungskraft erweitert“, meint Daniel Bax, Musikredakteur. „Aber mit welch relativ geringem Aufwand hier ein solches Ausmaß des Schreckens erreicht wurde, das hatte auch eine gewisse Faszination für sich.“
20:19 Schröder verurteilt Anschläge als Kriegserklärung (Reuters)
Eine Kollegin aus dem Haus rief Sabine Tegeler aus der Anzeigenabteilung an. Sie solle in die Agenturmeldungen reingucken. Was sie dort las, traf sie zutiefst. „Ich habe Angst gehabt und war erschüttert. Gleichzeitig dachte ich auch an die Opfer der Anschläge. Irgendwie war alles völlig unsortiert, ich habe keine klaren Gedanken fassen können. Ich habe gedacht, das gibt Krieg.“
Viele in der taz dachten, dass die Amerikaner sofort zurückschlagen würden.
Die Bomben, auf die alle warteten, fielen. Wochen später.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen