: Zu bunt und zu punkig für Marzahn
17 rechte Gewalttaten gab es laut Innenverwaltung im ersten Halbjahr 2002. Die Dunkelziffer liegt höher, vermuten Opfer rechter Gewalt und ihre Angehörigen. Die fühlen sich häufig von der Polizei im Stich gelassen. Vermehrt junge Punks betroffen
von HEIKE KLEFFNER
Der Angriff auf Andreas Kramer* war der Polizeipressestelle nicht einmal eine Kurzmeldung wert. Am 28. August erlitt der junge Punk im Park am Weißen See ein schweres Schädelhirntrauma, als ein bislang unbekannter Täter mit massiver Wucht eine gefüllte Wodkaflasche auf seinem Kopf zerschlug. Die behandelnden Ärzte bescheinigten dem 17-Jährigen, dass er nur mit Glück die Brutalität des Schlags überlebt habe. Dem Angriff vorausgegangen waren Beschimpfungen des Schülers als „Zecke“ und Drohungen, ihm „in die Fresse zu schlagen“.
Andreas Kramer, der mit schweren Kopfverletzungen blutüberströmt im Krankenhaus behandelt werden musste, ist sich sicher, dass der Angreifer zur rechten Szene im Stadtteil Weißensee gehört. Doch der ermittelnde Beamte im Abschnitt 72 mag keinen politischen Hintergrund erkennen, berichtet Klaus Kramer*, Vater des Punks, empört. Um einen politischen Hintergrund festzustellen, genüge es eben nicht, wenn das Opfer vom äußeren Erscheinungsbild her Punk sei und der Angreifer Glatze und Springerstiefel trug, habe der Polizist ihm gesagt.
Klaus Kramer und sein Sohn haben sich deshalb an Reach Out gewandt. Die Organisation unterstützt in Berlin Opfer rechter Gewalt und betreut inzwischen mehrere Fälle, in denen minderjährige Punks und ihre Eltern sich von den Sicherheitsbehörden im Stich gelassen fühlen.
17 Gewalttaten mit rechtsextremem oder fremdenfeindlichem Hintergrund hat die Innenverwaltung im ersten Halbjahr 2002 offiziell gemeldet. Die Dunkelziffer dürfte um einiges höher liegen, vermutet Sabine Seyb von Reach Out.
Davon ist mittlerweile auch Petra Lehmann* überzeugt. Dreimal wurde ihr heute 15-jähriger Sohn Thomas* innerhalb von zwölf Monaten in Marzahn von Rechten angegriffen. Das letzte Mal schlugen bislang unbekannte Naziskins den Punk mit dem „Ärzte-Fans gegen Rechts“-Aufnäher auf dem Rucksack in den späten Abendstunden des 21. Juni auf dem S-Bahnhof Friedrichsfelde-Ost bewusstlos.
„Auf dem Rückweg vom Ärzte-Konzert am Mariannenplatz wollte ich mit meiner Clique extra in Friedrichsfelde-Ost umsteigen, weil wir dachten, dass es da weniger Glatzen gibt als in Lichtenberg“, berichtet Thomas. Beim Aussteigen aus der S-Bahn sei dann eine Gruppe von „Altglatzen“ auf die 15- bis 18-jährigen Jugendlichen losgestürmt. Thomas kann sich nur noch an den Faustschlag erinnern, der ihn auf den Bahnsteig warf und an die Tritte der Springerstiefel. Erst im Krankenhaus kam er wieder zu Bewusstsein.
Seine Freunde erzählten ihm später, dass zwei S-Bahn-Sicherheitsbedienstete dem Geschehen tatenlos zugesehen hätten. Und dass die Polizeibeamten, die nach der Flucht der Angreifer am Ort des Geschehens eintrafen, Scherze gemacht hätten darüber, „dass schon wieder ein Punk zusammengeschlagen wurde“.
Beim Bundesgrenzschutz, der für die Sicherheit der S-Bahnhöfe zuständig ist, hat man den Angriff auf Thomas Lehmann registriert. Dass es sich um einen Vorfall mit rechtem Hintergrund handelt, will der BGS-Sprecher jedoch nicht bestätigen. Allerdings sei im Tagebuchprotokoll vermerkt, die unbekannten Täter hätten Springerstiefel getragen.
Petra Lehmann hat im letzten Jahr viel darüber nachgedacht, wie sie ihren Sohn vor weiteren Angriffen schützen kann. Der 15-Jährige gibt nur zögernd zu, dass die Attacken in seinen Alltag eingreifen und er bestimmte Orte ab den Abendstunden einfach meidet. Seine Mutter hatte sich zunächst gegen das Gefühl der Ohnmacht gesträubt, das ihr Sohn inzwischen mehrfach erlebt hat. „Aber als ein Polizeibeamter in Anspielung auf das äußere Erscheinungsbild meines Sohnes sagte, man müsse sich eben überlegen, wie man durch Marzahn läuft, und dann noch hinzufügte, dass seine Kollegen auf solche wie Thomas nicht gut zu sprechen seien, war ich sprachlos.“
Petra Lehmann sagt, die manchmal bunt gefärbten Haare und das Nietenarmband ihres Sohnes seien eben Ausdruck seiner Persönlichkeit. Die will sie nicht verändern. Aber weil sie „nicht aufs nächste Mal warten will, wo ich meinen Sohn im Krankenhaus abholen muss“, ist sie vor einigen Wochen aus Marzahn weggezogen.
„Unsere Kinder gehen vorsichtiger durch die Welt“, sagen Petra Lehmann und Klaus Kramer übereinstimmend. Eine Vorsicht, die sich auf die Eltern übertragen hat und dazu führt, dass sie ihren Namen nicht der Öffentlichkeit preisgeben.
* Namen von der Redaktion geändert
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