Kuhns Revier

„Reg dich nicht so auf, du Nasenbär“, murmelt Kuhn. Und lächelt versöhnlich

von HEIKE HAARHOFF

Morgens war er noch beim Roten Kreuz in Nordvorpommern, das war nicht Wahlkampf, aber da ist er nun mal Ehrenvorsitzender und muss sich von Zeit zu Zeit blicken lassen. Dann ist er zurück nach Hause gefahren, nach Zingst an der Ostsee, und von dort die 90 Kilometer für eine Stippvisite in sein CDU-Büro nach Bad Doberan. Jetzt ist es gleich halb eins, weitere 25 Kilometer sind zurückgelegt, und auf den Parkplatz der Software-Firma SIV in Roggentin bei Rostock biegt sein weißer VW-Bus ein, gemietet für die letzten, entscheidenden Wochen vor der Wahl. Zielstrebig steuert er die Bucht mit dem Schild „Vorstand“ an. „Genau das Richtige für uns“, sagt er. Draußen reicht er einer SIV-Mitarbeiterin die Hand: „Hallo, Werner Kuhn, Abgeordneter der CDU-Bundestagsfraktion.“

Die Mitarbeiterin lächelt. Sie weiß, wer der Mann mit den kurzen grauen Haaren, der Hugo-Boss-Brille und dem Schnauzer ist. Längst. „Werner Kuhn ist unser Stammgast“, erklärt sie. Alle bringe er hierher, jeweils in kleinen Gruppen: Journalisten, potenzielle Kunden, interessierte Fachleute. An diesem Tag ist es die Arbeitsgruppe Bildung und Wissenschaft der CDU-Bundestagsfraktion, der Werner Kuhn das expandierende 165-Mann-Unternehmen nahe bringen will. Die vier Abgeordneten warten schon. Im Sitzungssaal notieren sie sich die Wünsche der Firma: SIV ist erschüttert über die Rechtschreibkenntnisse seiner Bewerber. SIV fordert bundesweit einheitliche Abitur-Standards. SIV vermisst eine gesetzliche Förderung für Unternehmen, die ihren Mitarbeitern Anspruch auf Aktien gewähren. Die Abgeordneten nicken. CDU und SIV sind sich einig, das hier ist ein Heimspiel. Soll es auch sein, Werner Kuhn fühlt sich wohl. Was denn, die Region mache jungen Leuten zu wenig Freizeitangebote? „Aber es gibt doch ne Reha-Klinik!“ Kuhn lacht ein dröhnendes Lachen.

Kalauer statt mühseliger Überzeugungsarbeit, und das möglichst unter Gleichgesinnten, diese Art von Wahlkampf liebt Werner Kuhn. Aber es ist auch seine Methode, um den flächengrößten Wahlkreis Deutschlands zu bewältigen. „Wenn du 120 Kilometer von Nordwesten nach Südosten fahren kannst und immer noch in deinem Revier bist, dann ist es eine Illusion, mit Rosen von Tür zu Tür gehen und sich bei jedem Wähler persönlich vorstellen zu wollen.“

Stattdessen hat sich Werner Kuhn, der Diplom-Ingenieur für Schiffstechnik ist, eine Hand voll Firmen vorgenommen, denen er nützliche Kontakte vermittelt, die er ins Gespräch bringt. SIV gehört dazu. „Wenn dann ein Vertragsabschluss zustande kommt, erzählen die in ihrem Bekannten- und Freundeskreis an jedem Geburtstag davon.“ Und erwähnen seinen Namen. Tragen dazu bei, dass Menschen, die den 47-Jährigen nicht kennen, ihn am 22. September trotzdem wählen.

Werner Kuhn ist darauf angewiesen. Vor vier Jahren fehlten ihm genau 400 Stimmen. „Gegen einen zugereisten Wessi, den niemand kannte.“ Er rückte erst 2001 für einen anderen CDU-Abgeordneten nach, der das Parlament verlassen hatte. Jetzt tritt Werner Kuhn zum zweiten Mal gegen den Wessi an. Er heißt Dirk Manzewski. 1992 kam er als Richter nach Mecklenburg-Vorpommern und zog nach seinem Sieg gegen Kuhn 1998 für die SPD in den Bundestag ein. Es ist schwer im größten Wahlkreis, sagt Manzewski ebenfalls. „Man wünscht sich Bürgernähe und wird oft seinen eigenen Ansprüchen nicht gerecht.“

Kuhn und Manzewski kämpfen um das Direktmandat für den Wahlkreis 17, gelegen in Mecklenburg zwischen der Ostseeküste nahe Bad Doberan im Nordwesten, der Kreisstadt Güstrow auf halber Strecke und der Müritzer Seenplatte im Südosten, 232 Gemeinden auf 5.132,8 Quadratkilometern. Damit ist die Fläche doppelt so groß wie das Saarland. Das hat eine Million Einwohner, im Wahlkreis 17 leben 300.000 Menschen.

Schon 1998 hätten die Wahlkämpfer ein Raumschiff mit Warp-Antrieb benötigt, um Bürgernähe zu gewährleisten. Aber nachdem die Wahlkreise bundesweit neu zugeschnitten worden sind, ist das Revier um 2.000 Quadratkilometer gewachsen und Werner Kuhn hätte einen Techniker mit Scottys Beamfähigkeiten nötiger denn je.

Stattdessen hat er Andreas Unterfranz, CDU-Stadtvertreter in Bad Doberan: „Natürlich weiß er nicht in jeder Gemeinde im Detail Bescheid, wenn Bürger Fragen zu Grundstücksangelegenheiten, Beerdigungskosten oder Abwassergebühren haben.“ Stattdessen hat er Erich Zimmermann, CDU-Kreisgeschäftsstellenleiter in Waren: „Im Kreis sehen wir ihn durchschnittlich einmal pro Woche. Aber das soll kein Vorwurf sein.“ Stattdessen hat er Uwe Rethmeyer, Vorsitzender der CDU-Kreistagsfraktion in Güstrow: „Er muss auf Multiplikatoren setzen. Wenn es nicht anders geht, erzähle ich den Leuten eben, wer Werner Kuhn ist.“

Und dann macht der Kandidat selbst seine Wahlkampftouren zu Wochenmärkten, Straßenfesten und Altersheimen. Sagt er. Wenn man ihn allerdings bittet, ihn auf einer dieser typischen Touren begleiten zu dürfen, stellt er ein individuelles Tagesprogramm zusammen und fährt einen im weißen VW-Bus umher. Und so kommt man dann zur Software-Firma SIV nach Roggentin. Anschließend studiert Werner Kuhn zur Orientierung kurz die Deutschlandkarte wie andere den Stadtplan, dann geht es weiter. Dabei erzählt er, dass er das Auto braucht, während andere Abgeordnete in den Großstädten alles mit dem Rad erledigen können und trotzdem das gleiche Geld bekommen. „Eigentlich bräuchte ich drei Wohnungen wie ein vertriebener Palästinenser.“ Er glaubt wohl, dass so ein Satz gut ankommt.

Werner Kuhn meint es gut mit der arrangierten Rundreise. „Ich möchte, dass Sie einen möglichst detaillierten Eindruck bekommen, wie vielfältig dieser Wahlkreis ist.“ Er fährt zu einem Bauernhof. Dort wartet der Wähler Thomas Diener. „Hallo Werner“, sagt der Landwirt. „Ihr seid ja pünktlich.“ Führung durch den Kuhstall, Nitrofendiskussion, Katzenstreicheln, Abwanderungsdebatte. Nach einer Dreiviertelstunde wieder am Hoftor. Dort steht auch das Auto des Landwirtes, auf der Heckscheibe klebt ein Aufkleber. „Werner Kuhn – Taten statt Warten“.

Was würde mühselige Überzeugungsarbeit nützen, Bei den Entfernungen?

Wie viele im Wahlkreis Werner Kuhn wohl so gut kennen wie Thomas Diener? Vor der CDU-Geschäftsstelle in Güstrow versperrt der Kandidat beim Ausladen seiner Plakate kurz die Straße. Eine junge Frau im Wagen hinter ihm drückt wütend auf die Hupe. „Reg dich nicht so auf, du Nasenbär“, murmelt Werner Kuhn. Als sie vorbeifahren kann, setzt er ein versöhnliches Lächeln auf. Da ist die Frau nach einer verächtlichen Handbewegung schon davongebraust.

Werner Kuhn nimmt so etwas gelassen. Er hat 1989 das Neue Forum mitgegründet, er war Bürgermeister in Zingst, Landrat in Ribnitz-Damgarten, Bundestagsabgeordneter. Er ist lange genug Politiker, um zu wissen, dass bei Bundestagswahlen seltener der Einzelne denn die Großwetterlage ausschlaggebend für den Ausgang ist. Welche Rolle spielt es da, dass selbst diejenigen, die ihn erkennen, oft nicht wissen, ob er nun Kandidat für die Bundestagswahl oder die mecklenburgische Landtagswahl ist, die zeitgleich stattfinden? Was macht es, wenn sein Gesicht nur eins von vielen ist am mecklenburgischen Straßenrand? „Plakate“, sagt er, „entscheiden nicht die Wahl.“ 2.000 hat er trotzdem drucken lassen, zusätzlich 30.000 Flugblätter. Mehr gibt das Budget nicht her. Aber das ist tolerierbar. In Großstädten, sagt Werner Kuhn, hätten Kandidaten eine Chance, über persönliches Auftreten etwas zu holen. „Aber mehr als fünf oder sechs Prozent sind da auch nicht drin, es sei denn, du hast ne herausgehobene Funktion in der Fraktion oder viele Medienauftritte.“ In seinem Flächenwahlkreis rechnet er mit höchstens zwei bis drei personenbezogenen Prozent.

Der VW-Bus verlässt das Niemandsland von Störchen und Fröschen, biegt in einen Kiesweg ein, hält vor der vornehmen Burg Schlitz aus dem vergangenen Jahrhundert, die mittlerweile zum Luxushotel umfunktioniert ist. Werner Kuhn hat sich bei den Betreibern, mit denen er gut bekannt ist, seit die CDU hier ihren Neujahrsempfang ausgerichtet hat, zum Kaffeetrinken eingeladen. Die Dame an der Rezeption weiß nichts davon. „Hallo, Werner Kuhn, Bundestagsabgeordneter.“ Sie sieht ihn mitleidig an, so als sei er verwirrt und wolle in Wirklichkeit nur seinen Schlüssel. Werner Kuhn reicht ihr vorsichtshalber eine Visitenkarte.

Dann erscheint die Chefin persönlich, erkundigt sich nach dem Gelingen seines Wahlkampfs, führt durch die Hotelzimmer, um ihm schließlich mitzuteilen, dass sie ihn ja nicht wählen könne, weil sie US-Bürgerin sei. Werner Kuhn geht mit einem Lächeln darüber hinweg.

Als Multiplikatorin ist sie vielleicht trotzdem einsetzbar. Er könne ja ein Plakat dalassen, schlägt er vor. Die Chefin ist begeistert, „klar, und das hängen wir dann in die Küche“. Werner Kuhn zückt seinen Stift. „Für die Mitarbeiter von Burg Schlitz“ steht jetzt unter kurzen grauen Haaren, Hugo-Boss-Brille und Schnauzer.