: Mit „Zuwanderung“ in den Schlussspurt
Union beabsichtigt, mit Ausländerfrage den Wahlkampf zu emotionalisieren. Stoiber gibt konservativen CDUlern nach
BERLIN taz ■ Die Wahlkämpfer von SPD und Grünen geben sich schon im Vorhinein empört. Einen „schäbigen Kurswechsel“ der Union etwa will die grüne Parteichefin Claudia Roth erkennen. Und auch Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) wähnt bei CDU und CSU „einen Akt der Verzweiflung, der den inneren Frieden in Frage stellen würde“.
Was die Kämpen der Koalition so in Rage bringt, sind eine für heute kurzfristig anberaumte Pressekonferenz und Äußerungen der Union zu einem Thema, das bislang kaum eine Rolle spielte: die Zuwanderung. Die Koalitionäre befürchten offenbar, dass die Union im Schlussspurt mit dem Thema „Ausländer“ Emotionen schüren will.
Günther Beckstein (CSU), Stoibers Kompetenzmann für Innenpolitiker, hat mit PR-trächtigen Bemerkungen auf seine heutige Zuwanderungspressekonferenz in Berlin vorbereitet: Die Union werde in Falle eines Wahlsieges das Herzstück des rot-grünen Zuwanderungsgesetzes „sofort kassieren“, sagte Beckstein. Denn das so genannte Punktesystem weite die Zuwanderung von Ausländern „unabhängig vom arbeitsmarktpolitischen Bedarf und ohne Vorliegen eines Arbeitsplatzangebots“ aus. Dass dieses Punktesystem zunächst gar keine Anwendung finden soll, sagte Beckstein nicht.
Bedeutsamer aber ist, dass auch der Unions-Kandidat selbst plötzlich wieder laut über Zuwanderung redet. Womöglich, weil ihm konservative Unionsleute wie Roland Koch und Wolfgang Schäuble angesichts des dramatischen Abrutschens der Union in den Wahlumfragen zu einer schärferen Gangart geraten haben? Koch etwa klagte in der Welt „aktuelles Reaktionsvermögen ein“. Erste Unzufriedenheit in der Union über Stoiber registrierte auch die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung (FAS). „Im Schlafwagen kommt Kanzlerkandidat Stoiber nicht mehr ans Ziel“, spottete das Blatt – und bot stattdessen die Alternative nicht namentlich genannter Unionskreise an: Emotionalisierung der Wähler durch das Thema Zuwanderung. Auf Nachfrage der FAS stimmte auch Angela Merkel in den Chor ein und erklärte, bei der Zuwanderung werde man „die Verbindung zum Arbeitsmarkt und die Defizite der Integration weiter betonen“.
Stoiber, der nach seiner Rede im Bundestag am Freitag mit Schäuble in einen heftigen Disput geriet, ist inzwischen wohl bereit, sein Image als „wirtschaftskompetenter Staatsmann“ zu erweitern. Den Ratschlag Schröders, die Ausländerfrage „vernünftigerweise“ im Wahlkampf nicht hoch zu ziehen, wies Stoiber gestern barsch zurück: „Wer mit Kriegsangst Emotionen schürt, hat wirklich jegliche Berechtigung zu solchen Ratschlägen verloren.“
In Stoibers Wahlkampfteam will man den Kurswechsel nicht bestätigen. Es bestehe kein Zusammenhang zwischen den steil absackenden Umfragewerten Stoibers und der Neuauflage des Zuwanderungsthemas. Aber es sei klar, sagte Stoibers Münchner Sprecherin Dorothee Erpenstein der taz, dass der Kandidat „in dieser letzten Woche noch einmal deutlich macht, welche Entscheidungen am 22. September anstehen. Dazu zählt auch die Zuwanderung.“ CHRISTIAN FÜLLER
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