Brasiliens Linke wittert Wahlsieg

Im Endspurt des Präsidentschaftswahlkampfes schafft der Linkskandidat Lula etwas, was ihm bei früheren Wahlkämpfen nie gelang: Er baut seine Führung aus. Die anderen Kandidaten zerfleischen einander im Kampf um den zweiten Platz

aus Porto Alegre GERHARD DILGER

Knapp drei Wochen vor der ersten Runde der brasilianischen Präsidentschafts-, Parlaments- und Gouverneurswahlen am 6. Oktober hat die Linke Oberwasser bekommen. Trotz monatelanger Unruhe auf den Finanzmärkten liegt Luiz Inácio „Lula“ da Silva, der ewige Kandidat der Arbeiterpartei PT, so souverän in Führung wie noch nie: Bei 41 Prozent sieht ihn die letzte Umfrage vom Dienstagabend. Das ist fast genauso viel wie seine drei wichtigsten Konkurrenten zusammen auf die Waage bringen.

Auf Platz zwei liegt nun wieder der Regierungskandidat und frühere Gesundheitsminister José Serra, der bei 19 Prozent stagniert. Aber dieser Rang, der zum Einzug in die mögliche Stichwahl am 27. Oktober berechtigt, kann ihm noch streitig gemacht werden: Rios populistischer Exgouverneur Anthony Garotinho, mit 13 Prozent im Aufwind, und der frühere Finanzminister Ciro Gomes (12 Prozent) dürfen noch nicht abgeschrieben werden.

Programmatisch bewegen sich alle vier Kandidaten links von der Mitte. Neoliberale Rezepte sind out – gerade angesichts des Desasters im Nachbarland Argentinien. Die orthodoxen Technokraten aus der „Wirtschaftséquipe“ von Präsident Fernando Henrique Cardoso, zu denen Serra nie gezählt hatte, sind längst in der Defensive. Und wenn die Programme austauschbar sind, zählt Medienpersönlichkeit.

Am dramatischen Absturz von Gomes, der noch Anfang August gleichauf mit Lula gelegen hatte, zeigt sich, wie schnell die Stimmung umschlagen kann. Gomes’ großer Trumpf im fernsehbegeisterten Brasilien schien seine Frau zu sein, die gerade von einer Krebserkrankung genesene Schauspielerin Patrícia Pillar. Doch ein Eigentor auf einer Pressekonferenz mag dem als aufbrausend geltenden Kandidaten aus dem nordöstlichen Bundesstaat Ceará entscheidende Prozentpunkte gekostet haben. Seine Frau, so Gomes, spiele „eine der wichtigsten Rollen“ – nämlich mit ihm zu schlafen.

Wichtiger noch: Seit dem 20. August werden zweimal am Tag sämtliche Radio- und Fernsehsender des Landes je 50 Minuten lang für kostenlose Wahlwerbung gleichgeschaltet. Die Dauer der Spots richtet sich nach der Stärke der Parteien in den Parlamenten, was auf Bundesebene eindeutig José Serra zugute kommt. Auf ihn haben sich Gomes und Garotinho eingeschossen. Lula spielt den Part des überparteilichen Mittlers, der Brasilianer aller Gesellschaftsschichten zusammenzubringt.

So fiel Lulas Kritik an der achtjährigen Amtszeit von Präsident Cardoso, Serras Mentor, bisher ausgesprochen moderat aus. Im August, als es nach einem Zweikampf zwischen dem ehemaligen Gewerkschaftsboss und dem von konservativen Regionalfürsten favorisierten Gomes ausgesehen hatte, signalisierte der Präsident sogar, er könne in der Stichwahl seinen alten Widersacher Lula unterstützen. Derweil übten sich Serra und Gomes im Hauen und Stechen.

Klarer Sieger nach Punkten war dabei der eher blasse Sozialdemokrat Serra, der nun die lange vermiedene Polarisierung mit dem Favoriten sucht. In den Spots des Regierungskandidaten münden Lula-Zitate in die stereotype Phrase: „Entweder verbirgt Lula, was er denkt, oder er weiß nicht, was er sagt.“

Bisher ist sich Lulas Team noch unschlüssig, wie es auf Serras Provokationen reagieren soll, zumal nun ein Sieg in der ersten Runde in den Bereich des Möglichen gerückt scheint. Er wolle nicht polarisieren, sagte Lula am Dienstag – und setzte erfolgreich auf den Obersten Wahlrat, der bei den kostenlosen Sendezeiten Kürzungen und Gegendarstellungen anordnen kann.

Ganz im Schatten des Wahlkampfs stand eine inoffizielle Volksbefragung, die der progressive Flügel der katholischen Kirche, Gewerkschaften und die Landlosenbewegung MST, also die Basis der PT, in der ersten Septemberwoche organisiert hatten. Rund zehn Millionen BrasilianerInnen sprachen sich darin gegen die ab 2005 geplante Freihandelszone von Alaska bis Feuerland (FTAA) aus. Auch die Nutzung der Raketenbasis Alcântara im Nordosten Brasiliens durch die USA lehnen sie ab. Auch wenn Lula die Freihandelszone bisher noch als „Annexion“ geißelt, beteiligte sich die Arbeiterpartei aus wahltaktischen Gründen nicht an der Befragung. Darauf reagierten PT-Linke wie MST-Chef João Pedro Stedile, die die gemäßigten Töne des Kandidaten misstrauisch beäugen, fast beschwörend: Lula stehe als einziger „für jene sozialen Kräfte, die echte Veränderungen in diesem Land wünschen.“