Der Nabel am Strand

7. Preis des taz-Schreibwettbewerbs „Eros auf Reisen“

von THOMAS MAGOSCH

Lino. Er war ihm anfangs gar nicht aufgefallen, der dicke Bademeister. Blaue Turnhose, blaues T-Shirt mit gelb-kyrillischem Schriftzug irgendeiner Disco in der näheren Provinz auf dem oberen Rückendrittel. Das hat er nie ausgezogen. Seine Sonnenbrille ganz selten. Schwarz und schmal ins fleischige, tief braune Gesicht geschoben. Immer Dreitagebart, ein paar Härchen schimmern weiß. Jung ist Lino nicht mehr. Aber durchtrainiert. Ein wenig wie ein bulgarischer Bud Spencer ohne Vollbart. Bulgarien also. Am Strand von Losenetz, ziemlich weit südlich, weit weg vom laut Spiegel Vorzeige-Boom-Tourismus. Auch der Spiegel verkommt langsam zum TUI-Prospekt. Auf 200 Meter kommt ein Bademeister. Mittendrin Lino. Alle zwei Stunden stürzt sich der Fleischberg ins Wasser. Voll bekleidet. Nur die Sonnenbrille und seine Pfeife legt er ab. Wälzt sich in die Wellen. Ein organisches Auf und Ab. Eins mit dem Meer. Und allein.

Abends sitzt Lino zumeist in einer Buchte, die „Grintzing“ heißt, was in Kyrilliza geschrieben noch viel seltsamer aussieht. Die Kneipe hat diesen Namen, weil der Wirt eine einzige Süßspeise im Angebot hat, die „Torta Grintzing“. Die nächste Tortenkreation dieses Namens findet man in Sofia, als Backwerk ist sie am Strand von Losenetz einzigartig und ungenießbar.

Im „Grintzing“ saß nun auch Strehler häufig, nachdem seine waghalsigen Versuche, sich bulgarisch zu vereinen, fehlgeschlagen waren. Zwei Wochen pauschal, in die „goldenen Feriengebiete“. Eine etwas kurzsichtige Beschreibung. Strehler ist Bibliothekar, Ausleihschalter, Stadtteilsbibliothek Plagwitz, Leipzig. Und allein. Zwei Wochen ungezwungen zusammen sonnen, mit einem Fräulein, das man doch mal schnell kennen lernen könnte. So stellt man sich einen günstigen Urlaub vor. Was dann mehr als einmal fehlschlug. Bis er Lino sah.

Strehler ist eher schmächtig. Und weiß. „Bjalo“ grinste die dicke Zigeunerin immer, wenn er über den Marktplatz von Losenetz ging, um ihr einen Maiskolben abzukaufen, den sie dann, während sie grinsend ihre ganze Pracht an goldenen und silbernen Zähnen im Sonnenlicht aufblitzen ließ, aus dem riesigen Blechtopf fischte, der zwischen ihren Beinen stand. Bei ihr kam er das erste Mal mit Lino ins Gespräch. Auf Englisch.

„Drink birra?“

„Yes, äh, ja.“

„Come.“

Sie gingen ins „Grintzing“. Schnell. Lino sagte nicht viel. Er saß Strehler gegenüber und vielleicht musterte er ihn durch die Sonnenbrille. Aber Strehler fühlte sich gut. Geborgen, beschützt.

„Where you from?“

„Germany.“

„East or West?“

„Leipzig“, (was eine Lüge war, eigentlich kam er aus Sindelfingen, aber Strehler dachte sich, mit dem Osten fährt man hier besser, und wirklich):

„Gute.“

Linos Worte klangen bestimmt. Sie ließen keinen Widerspruch zu. So, wie er da saß, ein Glas Rakia vor sich, breitbeinig. Ab und zu fasste er sich zwischen die Beine. Das ist hier so üblich. Er schwitzte nicht. Er wollte zuhören.

„Come.“

Es schauderte ihn ein wenig. Aber er war ausgeliefert, wehrlos.

„Ja.“

Sie gingen an den Strand. Die Sonne versinkt in Bulgarien nicht im Meer. Lino setzte sich in seinen Bademeisterliegestuhl. Strehler setzte sich daneben. Lino beugte sich, langsam, wie in Zeitlupe, zärtlich über Strehler, schob ihm das T-Shirt bis zu den Rippen und drang in ihn ein. Er steckte seinen Finger tief in Strehlers Bauchnabel.

„Like this?“

Schwer zu antworten, schwer zu beschreiben, wie sich die kräftigen, behaarten Schaufeln an dem schmächtigen Körper emporarbeiteten. Wie jetzt irgendetwas in ihm steckte, mittendrin, umhüllt von einer dunklen Masse. Ein Gefühl zwischen Atemnot und purer Lust. Wenn sie beschreibbar wäre. „Ja.“

Keine Widerrede. Strehler tastete sich langsam über den mächtigen Oberkörper. Zuerst mit einer, dann mit beiden Händen. Langsam, ganz langsam ließ er seine Hände unter dem T-Shirt nach oben gleiten. Über den kühlen, fetten Bauch. Wie eine wabernde Erdkugel, weich und doch … er glaubte fast, die Blässe der Wampe zu fühlen. Dann schob er das blaue, sandige T-Shirt hoch. Alles roch nach Meer und Fisch und Sand und Alkohol und Rauch. Und entblößte den weißen, massigen, unbehaarten Bauch. Und steckte seinen Zeigefinger ganz langsam in den Nabel, der in der Dämmerung gerade noch als dunkles, tiefes Loch zu sehen war. Wie eine Raupe in ein riesiges Astloch. Und ließ ihn stecken. Und war glücklich.

Fotohinweis: Thomas Magosch, Studium mit Schwerpunkt Germanistik, Journalist, lebt in Bulgarien.