Der gezähmte Rüpel

„Schröder ist reifer geworden. Er kann besser zuhören.“

von JENS KÖNIG

Wer mit Hans-Jochen Vogel verabredet ist, der tut gut daran, auf die Minute pünktlich zu sein. Der Hausherr registriert das sehr genau, wenn man um halb zwölf, also exakt zum vereinbarten Termin, seine Wohnung in der Münchener Innenstadt betritt. Für das folgende Gespräch kann das nur hilfreich sein. Dann verabschiedet der alte Herr mit den weißen Haaren seinen Gast nach der verabredeten einen Stunde auch wieder ganz freundlich, allerdings nicht ohne den Hinweis, dass man von der S-Bahn-Station bei ihm um die Ecke bis zum Flughafen genau 37 Minuten benötige. In diesem Moment wird einem noch mal bewusst, dass die überaus korrekten Sätze, die der ehemalige SPD-Vorsitzende vorhin über seinen Nachfolger Gerhard Schröder von sich gegeben hat, für seine Verhältnisse schon fast Gefühlsausbrüche waren. Nicht umsonst haben sie schließlich den heute 76 Jahre alten Herrn, als er in seiner Partei noch zu bestimmen hatte, eine Mensch gewordene Aktenumwälzanlage genannt.

„Als Gerhard Schröder vor drei Jahren Vorsitzender der SPD wurde“, hat Vogel also gesagt, „da war das eine Vernunftsentscheidung auf beiden Seiten. Aber aus Vernunft ist dann Respekt und aus Respekt in den letzten Wochen sogar Sympathie geworden.“ Nun kann man zwar die Wärme nicht direkt spüren, wenn Vogel in seinem Arbeitszimmer vor einem Glas Wasser sitzt und über den jetzigen SPD-Vorsitzenden redet. Aber man traut seinen Ohren kaum bei den Worten, die dieser Pflichtmensch Vogel für den Mann findet, den er früher nur verächtlich den „Hannoveraner“ nannte, so wie er heute immer noch voller Abscheu über den „Saarländer“ und dessen „Flucht“ spricht.

Vor fünfzehn Jahren waren Hans-Jochen Vogel und Gerhard Schröder Intimfeinde. Vogel, der sich als SPD-Vorsitzender nie wichtiger genommen hat als die Partei, hielt Schröder für einen eitlen, unberechenbaren Egomanen, dem man nicht über den Weg trauen dürfe. Und heute? Alles vorbei, alles vergessen. Der Luftikus von einst steht mit beiden Beinen fest auf dem Boden. Da hält Schröder zum 50-jährigen Parteijubiläum Vogels eine Rede, in der er gerührt über den uneitlen Führungsstil dieses lebenslangen Parteisoldaten spricht. Und neulich, am Rande einer Wahlveranstaltung in München, hat Schröder seinen Rivalen von einst zum ersten Mal in den Arm genommen.

Von solchen wundersamen Wandlungen des früheren Rebellen Gerhard Schröder kann man auch in Schwäbisch Hall erfahren. Dort sitzt Erhard Eppler in seinem Garten und erinnert sich daran, dass er 1989 freiwillig aus dem SPD-Präsidium ausgeschieden ist und den damals jungen Gerhard Schröder, der in Hannover eine Wahl gewinnen sollte, als seinen Nachfolger vorgeschlagen hat. Aber sieben Jahre später stellte Eppler ernüchtert fest, dass er für Schröder niemals mehr werben würde. Dieser Mann, sagte er damals genervt, sei „eine reine Lotterie“.

Heute tritt Eppler aus Überzeugung dafür ein, dass jener Lotterievertreter vier weitere Jahre Kanzler bleiben darf.

Der 75-jährige Eppler ist auch so ein alter sozialdemokratischer Haudegen, aber viel sanfter, intellektueller und linker als Vogel. Nun findet er noch lange nicht, dass Schröder ein großer SPD-Vorsitzender sei. An seiner Regierungsarbeit hat er immer noch auszusetzen, dass ihr der rote Faden einer ökologisch-sozialen Politik fehle. Aber Eppler hält ihn immerhin für einen ganz guten Parteichef, einen, der gemerkt habe, dass die SPD in schwierigen Zeiten zu ihm stehe. „Schröder ist reifer geworden“, sagt Eppler. „Er ist dankbar gegenüber denjenigen, die ihm helfen.“

Schröder lädt die Männer von gestern, wie Vogel und Eppler, gern zu sich ins Kanzleramt ein, um sich von ihnen, die ihm an Lebenserfahrung doch einiges voraushaben, ab und zu einen Rat zu holen. Und um ganz nebenbei zu demonstrieren, dass mittlerweile sogar die Alten auf seiner Seite stehen. „Stellen Sie sich vor“, sagt Eppler, „bei einem dieser Gespräche kam Schröder auf einen Gedanken von mir zurück, den ich ihm gegenüber vor einem Jahr geäußert hatte. Das wäre früher ganz unmöglich gewesen.“

Überhaupt die Verwunderung über den Parteivorsitzenden und Kanzler. Sie ist ja in diesen Wochen und Monaten überall festzustellen, zuallererst natürlich in der eigenen Partei, aber nicht nur dort. Erst vor kurzem, so scheint es – das war im Sommer vorigen Jahres –, galt ein Wahlsieg von Gerhard Schröder als reine Formsache. In den Monaten danach stürzte er so tief, dass es gar nicht mehr weiter nach unten zu gehen schien. Aber das Land taumelt mittlerweile im Stundentakt von einem Extrem ins andere, sodass sich schon niemand mehr daran erinnern kann, ob die Bonusmeilenaffäre und der Scharping-Rücktritt in diesem oder nicht vielleicht doch schon im vorigen Jahrhundert die Gemüter erregt haben. Und plötzlich kann sich schon wieder kaum jemand vorstellen, dass der amtierende Kanzler die Wahl am Sonntag noch verlieren könnte.

So sind sie, die Zeiten, und vielleicht wird erst vor diesem schnell wechselnden Hintergrund eine andere Veränderung so richtig sichtbar, eine, die sich viel langsamer vollzieht, aber dafür auch viel tiefer geht: Es ist dies die Verwandlung – die wievielte eigentlich? – des einstigen Parteirebellen Gerhard Schröder, der durch einen Zufall der Geschichte an die Spitze der SPD gedrängt wurde, zum ernsthaften, manchmal fast schon ehrfürchtigen Vorsitzenden einer 140 Jahre alten Partei.

Er wird deswegen nicht gleich zu einem richtigen alten Sozialdemokraten, der plötzlich mit Liedern, Skatrunden, Jubiläumsfesten und den anderen Traditionsmeiereien der Partei etwas anzufangen wüsste, das nun nicht. Aber zu einem Sozialdemokraten, der verstanden hat, dass die SPD mehr ist als ein Zusammenschluss von 720.000 Mitgliedern, mit dessen Hilfe besonders Clevere Wahlen gewinnen und ihre Karriere planen können.

Das merken ihm fast alle in der Partei an, und deshalb verlieren sie in letzter Zeit auch so lobende Worte über ihn, ob im Parteivorstand oder in der Bundestagsfraktion, ob bei den Linken oder den Rechten, ob in Berlin oder an der Basis vor Ort. Das ist bemerkenswert, weil es ja für niemanden ein Geheimnis ist, dass sich Schröder, SPD-Mitglied seit 1963, fast 20 Jahre lang durch die Partei pöbelte und rüpelte. Fast jeder, der heute im Parteivorstand sitzt, hat ihn irgendwann im Laufe der Zeit wahlweise als machtgeil, unsolidarisch oder durchgeknallt beschimpft. Und die Partei erlebt es ja außerdem täglich, dass ihr ernster Vorsitzender nicht nur diese eine Rolle zu spielen vermag. Wenn es ums Ganze geht und er den großen Staatsmann gibt, wie im Falle Afghanistan, dann weiß Schröder seine Partei auch schon brutal auf seinen Weg zu zwingen. Es ist noch nicht so lange her, da hat er die Parteilinke Andrea Nahles für eine kritische Frage im Parteivorstand rüde abgebürstet und ihr zu verstehen gegeben, man sei hier doch nicht im Schülerparlament.

Trotzdem, es sieht so aus, als habe sich ein großer Schleier der Milde und des inneren Friedens über die SPD gelegt. Der große Egomane Schröder ist mit seiner Partei im Reinen, und sie mit ihm. Wenn er Hans-Jochen Vogel umarmt, rührt es den korrekten, alten Herrn. Aber auch für Schröder selbst ist es eine Befreiung, von seiner Partei endlich einmal geliebt zu werden.

„Aus Vernunft wurde Respekt, und aus Respekt Sympathie.“

Natürlich muss sich die gegenseitige Zuneigung nach dem 22. September aufs Neue beweisen. Schließlich geht es hier um Politik, also vor allem um Macht. Aber gerade in dieser Hinsicht sind ja alle Kämpfe in der SPD zunächst einmal ausgefochten. Engholm, Lafontaine, Scharping, alle sind sie die längste Zeit Enkel von Willy Brandt gewesen, und neue sind nicht in Sicht. So ruht Schröder in sich und führt unumstritten eine Partei, die darüber ganz verlernt hat, wie man sich richtig streitet. SPD-Vorsitzender wird er in jedem Fall bleiben, auch bei einer Wahlniederlage an diesem Sonntag, das hat er seiner Partei vorsorglich schon mal vor zehn Tagen in einem Stern-Interview mitgeteilt.

Zu besichtigen ist in diesen Wochen also ein Gerhard Schröder, der von ganz unten, aus armen Verhältnissen, gekommen und ganz oben, im Kanzleramt, gelandet ist, der aber erst jetzt so richtig zu begreifen scheint, welche Verantwortung er da übernommen hat. Im siebenten Stock des Kanzleramts, wo man sich allein schon durch den freien Blick über halb Berlin der Macht ein wenig näher fühlt, kann man mit Frank-Walter Steinmeier stundenlang darüber reden, was es bedeutet, unter der Turbogeschwindigkeit der Mediengesellschaft zu regieren und wie das den Charakter der Regierenden verändert. Steinmeier ist als Kanzleramtsminister einer der engsten Vertrauten von Schröder und bekommt in dessen unmittelbarer Nähe mit, welche Dimensionen die Entscheidungen haben, die in der Regierungszentrale tagtäglich zu treffen sind, auch in ihren internationalen Auswirkungen. Steinmeier erzählt, dass auch Schröder erst lernen musste, damit fertig zu werden. Aber heute merke man ihm an, dass er diesen Lernprozess durch hat. „Das ist nicht gespielt, sondern Teil seiner Persönlichkeit“, sagt Steinmeier. „Das macht die besondere Authentizität von Schröder aus.“

Man könnte das Respekt vor dem Amt nennen, wenn es nicht etwas hochtrabend klänge bei einem Mann, der sein bisheriges Leben respektlos gegen alle möglichen Autoritäten und Ämter angekämpft hat. Aber irgend so ein Gefühl muss es sein, dass sich vom Kanzler Gerhard Schröder offenbar auch auf den Parteivorsitzenden Gerhard Schröder übertragen hat. Wenn er dieser Tage von seinen Wahlkampfveranstaltungen zurück nach Hause fährt, erzählt er schon mal, welche Verpflichtungen es mit sich bringt, Vorsitzender einer Partei zu sein, die 140 Jahre alt ist, und wie es sich anfühlt, wenn alle Hoffnungen und Enttäuschungen in dieser Partei sich auf eine einzige Person konzentrieren.

Schröder hat gelernt, dass das Amt des SPD-Vorsitzenden etwas Ikonografisches besitzt, das zu seiner Aura passt. „Kanzler zu sein, das ist etwas Großes“, sagt Schröder. „Aber SPD-Vorsitzender, das ist etwas Historisches.“

Wenn Schröder am Sonntag verliert, ist es seine Niederlage. Aber wenn er gewinnt, ist es auch sein Sieg.