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Der Frühling im September

Anfangs nahm niemanddie Flut ernst. Denn noch nie war das Wasser überdie Straße gekommen

von TILL DAVID EHRLICH

Es ist schön hier, in den Wochen nach der Flut. Weiße Sonnenschirme, Holzbänke, Wein rankt am Spalier. „Ja“, sagt Steffen Schabehorn, „es geht weiter.“ Die Stimme klingt fest. Ihn hat es am härtesten unter Sachsens Winzern getroffen. Er steht im Schatten seines grünen Hoftores. Es ist aus Holz, drei Meter hoch und zweihundert Jahre alt. Der 39-Jährige schaut in den Hof seines Weingutes. Es duftet nach selbst gebackenem Zwiebelkuchen. Birka Schabehorn schenkt eigenen Wein aus.

Das grüne Tor ist die einzige Ausfahrt. Links und rechts stehen Weinstöcke. Sorte Weißer Burgunder, etwa 300 an der Zahl. Vielleicht etwas mehr, vielleicht etwas weniger. Aber das ist jetzt egal. Die Trauben sind fast reif, doch niemand wird sie ernten. Sie sind mit einer dicken Kruste bedeckt. Getrockneter Schlamm. Der Schlamm ist silbergrau. Bevor man ihn sieht, riecht man ihn. Süß, fischig, modrig.

Das Weingut steht an der Uferstraße. Vier Kilometer sind es bis Meißen, elbabwärts. Hinter der Straße senkt sich die Böschung mehrere Meter, dann sind es noch mal 100 Meter bis zur Elbe. Es gibt keinen Deich. Zwei Wochen nach der Flut hat die Elbe wieder Normalwasser, 300 Kubikmeter fließen pro Sekunde vorbei. Der Fluss wirkt träge. So, als wäre nichts gewesen. Aber dort, wo das Hochwasser war, ist alles leblos. Eine Mondlandschaft. „Noch nie“, sagt Thomas Herrlich, der Nachbar von Schabehorn, „noch nie ist das Wasser über die Straße gekommen.“ Das war nicht vorstellbar. Und deshalb nahm auch Herrlich in den ersten Tagen die Flut nicht wirklich ernst. Sein Weingut „Vincenz Richter“ liegt nur wenige Minuten von dem der Schabehorns entfernt. Aber es liegt höher.

Donnerstag, 15. August. Es war Mariä Himmelfahrt und Nacht, zwei Uhr morgens. Das Wasser lief über die Straße. Langsam, aber stetig. Es war still. Kein Autogeräusch. In dem Moment begriff der Winzer die Gefahr. Seine Kellerei ist drei Meter von der Straße entfernt. Thomas Herrlich fuhr sofort los, organisierte Sandsäcke. Am nächsten Morgen gab es keinen Strom, kein Telefon, kein Fernsehen. Das Wasser stieg schnell. Herrlich besorgte Plastikschaum, verklebte Türen und Fenster. Fuhr 200 Kilometer, um ein Notstrom-Aggregat zu leihen. Warf seine Weinpumpe an, um die Elbbrühe abzusaugen. Am Abend floss die Elbe einen halben Meter über der Straße. Das Wasser drückte gegen die Türen. Drang durch alle Ritzen. Die Pumpe lief langsam, aber sie lief.

Freitag, 16. August. Steffen Schabehorn paddelte im Schlauchboot an seinem Rosenstrauch vorbei. Im Hof stand das Wasser einen Meter hoch. Die Sandsäcke, die er an das grüne Hoftor geschichtet hatte, waren überflutet. Weinfässer schwammen im Hof, Traktoren, Weinpressen standen unter Wasser. Die Giftbrühe war in seinen Weinkeller gelaufen. Sie drang überall hin. Als Steffen Schabehorn am Hoftor stand, reichte ihm das Wasser bis zum Hals. Er hat zu lange gewartet.

Als er begriff, was auf ihn zukommt, war es zu spät. Sie dachten, sie hätten die Natur im Griff. Aber jetzt hatte niemand mehr irgendetwas im Griff. Die einzige Ausfahrt geht zur Straße. Sie war ein reißender Fluss. Die Schabehorns waren eingesperrt, das Wasser stieg.

Montag, 19. August. Die Hochflut ist vorbei. Der Schlamm bleibt zurück, lähmt die Menschen. Dann bringt er sie zusammen. Im Weingut Schabehorn ist das Wasser abgelaufen. Die Rosen sind von einer dicken Schlammschicht überzogen. Die Zerstörung ist jetzt sichtbar. Ein Chaos. Aber es geschehen Wunder. 50 Leute kommen plötzlich spontan auf den Hof, um zu helfen. Viele kennen die Schabehorns nicht. Unbekannte Menschen schrubben und scheuern eine Woche lang. Auch die Stahltanks, die noch mit Wein gefüllt sind und die Flut unbeschadet überstanden haben. 1.800 Liter Wein werden im Chaos versehentlich abgelassen. Es ist der dritte Jahrgang, den Steffen Schabehorn in seinem neu gegründeten Weingut selbst ausgebaut hat. Ein entsetzlicher Verlust für den kleinen Familienbetrieb. Doch die Familie klagt nicht.

Birka Schabehorn sagt etwas ganz anderes. Sie sagt: „Man glaubt nicht, dass man so geholfen bekommt.“ Nie hätte sie das für möglich gehalten. Sie lächelt verlegen.

Eine Woche später ist der Hof wieder ein Idyll. Die Rosen blühen, aber ihre Blätter sind grau. Hinter dem Rosenstrauch liegt die Wohnung der Schabehorns. Es gibt keine Wohnung mehr. Das Wasser stand bis zur Decke, vier Tage lang. Es riecht nach Fäulnis. Die Wände sind nackt und nass. Nur an einer Wand hängt noch eine Figur aus Holz: ein Bacchus. „Den haben wir nicht mehr retten können“, sagt Birka Schabehorn. Aber der Weingott hat die Flut gut überstanden. Im ganzen Haus liegen Schläuche, schlängeln sich in den Keller. Grünes Wasser steht dort einen halben Meter hoch. Die Pumpe läuft seit einer Woche, aber das Grundwasser drückt immer neues Wasser nach.

Von der vierten Woche nach der Flut an ist die Schlamm-Zeit ist vorüber. Die Mondlandschaft hat sich in zartes Grün verwandelt. Mit jedem Tag wirkt der Schlamm weniger leblos. Die Natur ist stark, der Frühling kommt im September. Im Weinberg beginnt die Erntezeit.

Thomas Herrlich steht in seinem Steilhang, 300 Meter hoch über der Elbe. Der Boden ist Geröll, dicht darunter nackter Fels, roter Granit. Hier leiden sonst die Reben an Wassermangel. Aber der Regen hat den Felsboden gut bewässert. Sobald der Winzer an die Ernte denkt, vergisst er die Sintflut. „Der Regen war ganz positiv“, sagt er. Noch nie hat er solche Rieslingtrauben gesehen. Drall und kraftvoll. Er will sie bis in den späten Oktober hängen lassen. Jetzt werden die frühreifen Sorten geerntet, Müller-Thurgau etwa. Thomas Herrlich denkt an die Lese, die Flut liegt hinter ihm. 2.000 Euro Pauschalhilfe hat er vom Amt für Landwirtschaft bekommen. „Schreiben Sie, dass es schnell ging, unbürokratisch.“

Steffen Schabehorn sitzt in seinem Hof auf einer Obstkiste. Er füllt ein Antragsformular aus, achtseitig. Seit einer Woche füllt er Anträge aus, führt Gutachter durch sein zerstörtes Weingut. Der Schaden beträgt bei ihm 137.000 Euro. Eigentlich müsste er im Weinberg sein. Aber er hat keine Geräte mehr, um die Ernte einzuholen. Er ist auf Hilfe angewiesen. Weil die Pauschalhilfe bei ihm nicht ausreicht, muss alles genau aufgenommen werden. Nach Vorschrift. Das dauert. Vielleicht dauert es bis Weihnachten, sagt er.

Unbürokratisch war nur die Hilfe vom Deutschen Roten Kreuz: 2.000 Euro. Vom Land Sachsen hat er 500 Euro erhalten. Davon lebt die Familie. Hilfe bekommen die Schabehorns vor allem von Freunden und Nachbarn. Thomas Herrlich bearbeitet den Weinberg der Schabehorns, er wird die Trauben keltern. Die Weinernte ist ihre Hoffnung. Diesmal meint es die Natur gut. Bis jetzt sieht es optimal aus. Wenn nur das trockene Wetter anhält. Birka Schabehorn stellt Blumen auf die Tische im Hof. Sie wartet auf Gäste.

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