: Küsse, Bisse
Zurück im Zementgarten: Ian McEwan schreibt in „Abbitte“ wieder über eine Geschwisterliebe
von SUSANNE MESSMER
Es gibt einen Moment in Ian McEwans neuem Roman „Abbitte“, der die gesamte Dramaturgie bestimmt. Robbie Turner, der Sohn der Putzfrau, und Cecilia Tallis, die Tochter aus höherem Hause, sind aufgewachsen wie Geschwister. Trotz seiner niederen Herkunft wird Robbie von der Familie Tallis gefördert, als Jugendlicher bekommt er sein Studium von Cecilias Vater finanziert. An einem einzigen heißen Sommerabend, irgendwann Mitte der Dreißigerjahre in der Bibliothek des Hauses, kippt alles um. Robbie und Cecilia verlieben sich. In einer atemberaubenden Sexszene besiegeln sie die Verwandlung ihrer symbiotischen Beziehung. Ihre Körper brechen auf, und sie haben das „ehrfürchtige Gefühl“, zurückgekehrt zu sein.
Nicht nur Robbie und Cecilia, sondern auch der britische Autor Ian McEwan ist endlich zurückgekehrt, zurück zu seinem großen Thema, zum neurotischen Kern der Liebe, wie wir sie kennen. Und weil McEwan Anglistik studiert hat und Englischlehrer war, weiß er nicht nur um die Bedeutung der Liebe zwischen Menschen verschiedener Klassen in der englischen Literatur, sondern auch um die der Geschwisterliebe, die seit 1800 immer wichtiger wurde, seit einer Zeit also, in der das romantische Liebesideal immer mehr seelische wie sinnliche Übereinstimmung forderte.
Die Geschwisterliebe, eigentlich verboten, galt plötzlich als das Höchste. Wie viele verwandte Liebespaare in der Literatur lösen sich Robbie und Cecila geradezu ineinander auf. Der Reiz des Verbotenen, den sie nicht aus ihrer Blutsverwandtschaft ziehen können, ersetzen sie durch das Wissen um ihre sozialen Unterschiede. Es hat etwas Gewalttätiges, wie sie „einander attackierten“ und „aus den Küssen Bisse“ werden.
Auch wenn die romantische Liebe eine alte Geschichte ist: Weil wir uns noch immer nach ihren Regeln zusammentun, geht auch bei McEwan eine Frische von ihr aus, die für den Rest des Buches reicht. Robbie und Cecilia werden auseinander gerissen. Noch in derselben Nacht wird Robbie verdächtigt, ein anderes Mädchen vergewaltigt zu haben, er muss ins Gefängnis. Cecila hört auch nicht auf, Robbie mit ihren Briefen am Leben zu halten, als er Jahre später als gefangener Soldat in den Zweiten Weltkrieg muss. Mit ihrer Familie, die nur so lang zu ihm hielt, wie er ihren Vorstellungen entsprach, hat sie gebrochen und ist Krankenschwester geworden.
Ist Geschwisterliebe das eine Kraftfeld des Romans, dann sind die Wirrungen und der Glanz der Pubertät das andere – auch dies ein wichtiger Bestandteil im Kosmos von Ian McEwan, wie man es von seinen frühen Büchern wie dem Roman „Zementgarten“ kennt, in dem vier einander heftig liebende Geschwister die Außenwelt aussperren. Neben Robbie und Cecilia gibt es nämlich noch eine weitere entscheidende Figur: Briony, die kleine Schwester Cecilias. Während Cecilia, noch nicht ganz Frau, in ihrer Geschwisterliebe zu Robbie zurück will, zurück zum eigenen Spiegelbild, zu einem vorsprachlichen Zustand, in der es keine Differenz gibt zwischen Ich und Anderem, ist die altkluge Briony nicht mehr ganz Kind und wünscht sich Einlass in das Reich der Erwachsenen, unter dem sie sich mehr vorstellt, als dran ist.
In jener heißen Nacht ist sie es, die behauptet, Robbie bei der Vergewaltigung gesehen zu haben. Sie ist es auch, die das Klischee des triebgesteuerten Underdogs in den Köpfen ihrer Eltern abruft, wie sie es aus vielen Büchern, zum Beispiel in Emily Brontës „Sturmhöhe“, gelesen haben mag.
Ian McEwans Buch wurde von einigen Kritikern als altmodisches Buch gelobt, weil es um die fragwürdige Macht der Literatur gehe und den Einbruch von Wirklichkeit in die Welt sexueller Fantasien. Robbie wird beim Rückzug der englischen Armee aus Frankreich fast in tausend Stücke gesprengt, und Briony, die aus Reue wie ihre Schwester Krankenschwester wird, ist plötzlich mit Wirklichkeiten konfrontiert, die sie in ihrer Gier nach den Geheimnissen der Großen gar nicht meinte. Sie muss – und auch hier zeigt Ian McEwan, was er kann, wenn es um Körper geht – zerlöcherte und zerstückelte Soldaten verarzten.
Ian McEwan hat kein altmodisches Buch geschrieben. Wie seit je beschreibt er mitreißend die beängstigende Macht der Jugend, Wirklichkeiten zu schaffen, die stärker sind als die der Erwachsenen. Briony, die größenwahnsinnige Pubertierende, wird sich leider nie wieder so stark fühlen wie in dieser Sommernacht. Ihre zerstörerische Kraft fasziniert, weil sie nur von Mädchen ausgehen kann, die noch nicht im Korsett gesellschaftlicher Erwartungen klemmen. Und die Liebe zwischen Robbie und Cecilia, die von wenigen Augenblicken zehrt, diese Liebe stellt alles in der Schatten – selbst den Krieg und den Untergang der Welt, in der sie ihre Kindheit verbracht haben.
Ian McEwan: „Abbitte“. Aus dem Englischen von Bernhard Robben. Diogenes Verlag, Zürich 2002, 535 S., 24,90 €
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen