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Mission für einen Neubeginn

aus Freetown HAKEEM JIMO

Die Flüchtlinge und Helfer wundern sich, dass die gewohnte deutsche Pünktlichkeit heute nicht funktioniert. Seit dem frühen Morgen warten hunderte von Rückkehrern auf die Lastwagen der deutschen Entwicklungsbehörde GTZ (Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit). Ein paar Stunden Warten auf die Rückreise können die gute Stimmung aber auch nicht mehr trüben.

„Ich bin glücklich, endlich nach Hause zu kommen“, sagt der 13-jährige Philip Komba. „Es hat mehr als zehn Jahre gedauert.“ Als Dreijähriger war der junge Sierra-Leoner mit seiner Familie vor den Rebellen geflohen – einer von Hunderttausenden. Jahrelang lebte er in Guinea. Vor einem Jahr kam er zurück nach Sierra Leone und fand Unterkunft im Lager Jembe nahe der Provinzstadt Bo im Südosten des Landes.

Jembe beherbergte in Spitzenzeiten 6.000 Vertriebene. Gerade als es sich jetzt zu leeren beginnt, kommen neue Flüchtlinge – aus dem nahen Liberia, wo wieder einmal Bürgerkrieg herrscht. Es wird Jahre dauern, bis alle Sierra-Leoner wieder in ihren Heimatorten angesiedelt sind. Die Regierung will die Rückführung der Vertriebenen nicht überstürzen. Auch wenn das ganze Land seit April offiziell befriedet ist, vollzieht sich der Wiederaufbau mühsam.

Den neuen Krieg in Liberia bezeichnet die UNO als die größte Gefahr für den jungen Frieden in Sierra Leone. Im Dreiländereck Sierra Leone–Liberia–Guinea kann eine Krise in einem der Länder schnell die Grenze ins nächste überspringen. Alan Doss, Vizechef der UN-Mission in Sierra Leone und verantwortlich für Regierungsarbeit und Stabilisierung, sagt, dass die Gefahr eines erneuten Krieges in Sierra Leone noch nicht vorbei ist.

Rückkehr & Umkehr

Die UN-Mission in Sierra Leone ist die größte der Welt. Über 17.000 Blauhelmsoldaten, die meisten aus Asien und Afrika, aber auch zwölf aus Deutschland, sind seit Oktober 1999 hier stationiert. Sie haben die Regierung von Präsident Ahmed Tejan Kabbah gegen die Rebellen der Vereinigten Revolutionären Front (RUF) gesichert und organisierten, als der Krieg zu Ende ging, die Demobilisierung zehntausender Kämpfer aller Seiten. Jetzt ist Sierra Leone friedlich, die RUF hat die Waffen niedergelegt und Präsident Kabbah hat im Mai diesen Jahres freie Wahlen gewonnen. Die UN-Mission ist erfüllt.

Am 30. September läuft das bisherige Mandat aus. Und dann, so hat es der UN-Sicherheitsrat am Dienstag beschlossen, zieht sich die Mission allmählich zurück. Zunächst wird die Truppe um 4.500 Soldaten verringert, bis Ende 2004 soll sie auf 5.000 Mann sinken, danach auf 2.000.

Momentan kümmert sich Alan Doss vor allem um den Wiederaufbau. Rund 3.000 Dörfer und Orte seien vom Krieg schwer beschädigt, sagt der UN-Vize. Gemeinschaftseinrichtungen wie Schulen, Gesundheitszentren und Brunnen sind zerstört, viele Menschen haben ihre Häuser verloren. Trotzdem warten die Vertriebenen nicht auf die Rückkehrprogramme der UN oder anderer Institutionen. Viele machen sich selbst auf den Weg in ihre Heimatorte. „Sie können es kaum erwarten“, sagt Doss.

Für die Rückkehrer ist die Frage nicht mehr, ob es wieder Krieg geben könnte, sondern welcher Weg der beste zu einer Versöhnung ist. Die traurige Geschichte des 35-jährigen Schneiders Sekou Conte ist nur eine von tausenden in Sierra Leone. „Es waren mehr als tausend“, erinnert sich Conte an die verhängnisvolle Nacht vor einigen Jahren, als Rebellen sein Dorf besetzten. „Sie kamen nachts, gegen zehn, und umstellten unser Dorf. Sie plünderten alles, wir mussten dann ihre Beute für sie in den Wald tragen. Dann zündeten sie das Dorf an. Am Morgen begannen sie, einige von uns zu töten. Anderen schnitten sie die Hände ab. Keiner stellte uns irgendwelche Fragen. Bei mir mussten sie zwei Macheten benutzen – die eine ging kaputt. Sie holten eine neue und machten kurzen Prozess. Wir stellten uns in einer Reihe an. Abhacken. Weitergehen. Abhacken. Weitergehen. So ging das“. Nach der Verstümmelung wurden die 27 Männer des Dorfes laufen gelassen. Schwer verletzt, suchten sie nach Hilfe. Erst nach zwei Tagen brachte sie ein Hubschrauber des Roten Kreuzes in die Hauptstadt Freetown.

Hilfsorganisationen schätzen, dass insgesamt 50.000 Menschen von den RUF-Rebellen verstümmelt wurden. Die Motive bleiben bis heute unverständlich. Nur vordergründig, höchstens am Anfang des Krieges, ging es den RUF-Kämpfern um einen politischen Wechsel im früher tatsächlich sehr korrupten Sierra Leone.

Bald wurde klar, dass die RUF-Rebellen ihr Augenmerk auf die Diamantenfelder des Landes und deren Ausbeutung gerichtet hatten. Sie bekamen Unterstützung von Liberia, dessen Präsident Charles Taylor für seine Verwicklung in den sierra-leonischen Bürgerkrieg 2001 unter UN-Sanktionen gestellt wurde.

Der Krieg ist jetzt vorbei, aber Sekou Contes Geschichte ist nicht zu Ende. Es sei ein einziger Mann gewesen, der alle Männer seines Dorfes verstümmelt habe, erzählt er und weiß: „Dieser Mann lebt in der Kaserne des 7. Bataillons. Ich habe ihn gesehen. Er ist jetzt Feldwebel in der Armee.“

Das 7. Bataillon liegt am Rand der Hauptstadt Freetwon. Am Eingang zum Militärgelände steht ein gepanzerter Kampfwagen der UN-Mission: Die Blauhelme teilen sich die Kaserne mit der regulären Armee, und diese hat Rebellenkämpfer aufgenommen. So herrscht friedliche Koexistenz zwischen den Streitkräften aller Seiten.

Sekou Conte hat recht: Der einstige RUF-Folterer und heutige Feldwebel Yaya, Kampfname „Ranger“, wohnt hier, in einem Bungalow mit drei Zimmern, Küche und Bad. Die kleinen Häuschen unterscheiden sich nur in der Farbe – die einen gelb, die anderen grün, wieder andere blau. Vor einigen Türen stehen Militärstiefel. Das Haus des Feldwebels wird von einer hübschen jungen Frau geöffnet. Ranger ist zu Hause. Er kommt aus dem Schlafzimmer. Nachdem er erfährt, worum es geht, schickt er seine Frau ins Nachbarzimmer. Sie wisse von alldem nichts, erklärt er.

Damals & heute

Ranger, etwa Ende 30, wirkt verunsichert. Seine Geschichte geht quer durch alle Lager des sierra-leonischen Krieges. Anfang der 90er-Jahre diente er in der Leibwache des jungen Militärmachthabers Valentine Strasser, der Sierra Leone von 1992 bis 1996 regierte. Dann absolvierte er in Ghana eine Spezialausbildung als Dschungelkrieger. Zurück in Sierra Leone geriet Ranger in den Dunstkreis eines Mannes, der bald berühmt und berüchtigt werden sollte: Generalmajor Johnny Paul Koroma.

Zusammen mit ihm und anderen Soldaten saß Ranger einige Zeit im Gefängnis. 1997 wurden sie während eines erneuten Militärputsches von Kameraden befreit, Koroma wurde Chef der neuen Militärjunta. Das Regime von Koroma bestand zwar nicht einmal ein Jahr, aber als es durch eine Militärintervention Nigerias gestürzt wurde, blieb rund die Hälfte des Landes unter Kontrolle der RUF-Rebellen – sicheres Refugium für Leute wie Koroma und Ranger. Heute will Ranger mit Politik nichts mehr zu tun haben. Im neuen Sierra Leone ist er nur noch einfacher Fahrer bei der Armee. Sein einstiger Kumpan Koroma trat dieses Jahr als geläuterter gläubiger Christ bei den Präsidentschaftswahlen an, ohne Erfolg.

Der Bürgerkrieg hat die sierra-leonische Gesellschaft bis in ihre Grundfesten erschüttert. Viele fragen sich, ob Versöhnung nach all dem Grauen noch möglich ist. Zwei Wege werden beschritten: Ein Kriegsverbrechertribunal soll die Hauptverantwortlichen zur Rechenschaft ziehen; parallel dazu wird eine Wahrheitskommission eingesetzt, gewissermaßen als Gesprächsforum.

Schuld & Sühne

„Dieser Krieg wurde bis in die Familien hineingetragen“, sagt Yasmin Jusu-Sheriff, Sprecherin der Wahrheitskommission, die nach dem südafrikanischen Modell „Truth and Reconciliation Commission“ heißt. Bruder und Bruder, Schwester und Schwester, Mutter und Vater, Gemeinschaften und Nachbarn wurden gegeneinander aufgehetzt. Dass nicht alle Täter vor Gericht gebracht werden können, verstehen viele Menschen. Aber sie sind geteilter Meinung, wie viel Nachsicht und Vergebung überhaupt möglich sind. Die Älteren wollen schlicht Gerechtigkeit in irgendeiner Form; die Jugendlichen – wie fast überall in Afrika die Bevölkerungsmehrheit – wollen die tiefen Wunden lieber schnell heilen lassen und nach vorn blicken.

Einer steht schon jetzt vor Gericht: Der Chef der Rebellen, Foday Sankoh. Er steht mit 49 anderen RUF-Führern vor einem sierra-leonischen Strafgericht. Vor zwei Jahren nahmen ihn britische Soldaten gefangen. Nun werden der frühre Rebellenchef und seine Mitangeklagten voraussichtlich dem Kriegsverbrechertribunal überstellt. Das Tribunal und die Wahrheitskommission sollen noch in diesem Jahr ihre Anhörungen beginnen, obwohl die Termine bereits mehrfach verschoben wurden. Der handamputierte Sekou Conte will auf jeden Fall aussagen – lieber vor dem Kriegsverbrechertribunal, notfalls aber auch vor der Wahrheitskommission.

So rückt auch für Feldwebel Ranger die Stunde der Wahrheit näher. Innerlich ist der frühere Rebell schon auf der Flucht. „Irgendwie fühle ich mich unsicher, hier zu leben“, sinniert er. „Auch während der Zeit bis zu den Wahlen im Mai diesen Jahres bin ich niemals an die Orte gegangen, wo ich sonst bin. Häufig schlafe ich außer Haus. Die Leute sollen nicht wissen, wo ich wohne. Denn es kann ja alles passieren. Wenn ich länger in der Kaserne stationiert bin, gehe ich zu Verwandten in der Umgebung und verbringe dort einige Zeit. Und komme erst nachts heim.“

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