piwik no script img

Insolvent: Der Kirschgarten

Das Bremer Theater eröffnet die neue Schauspiel-Spielzeit mit Tschechows tragischer Komödie. Regisseur Aureliusz Smigiel wollte das Stück entstauben, doch er ersetzt nur alte durch moderne Folklore. Schauspieler und Bühnenbild entschädigen dafür

„Das dialektische ‚Make love, not war‘ hat sich zu einem ‚Have fun‘ verdichtet.“

Der erste Blick erinnert an eine Soap: Ein bezopftes Girlie (Susanne Schrader) in pinkem Fummel, das ordinär Kaugummi kauend und Joghurt futternd auf dem Sofa herumlungert und unendlich gelangweilt in die dauerrieselnde Glotze stiert: ein Stillleben moderner Langeweile.

Anton Tschechows „Kirschgarten“ wurde 1904 uraufgeführt. Er nannte das Stück eine „Komödie“, aber natürlich enthält diese auch jede Menge Tragödienpotenzial. Tschechows Menschen tanzen schwadronierend und quasselnd, selbstmitleidig und mit großer Geste ihrem Untergang entgegen.

Fast hundert Jahre später hat sich der junge Regisseur Aureliusz Smigiel daran gemacht, Tschechow zu entstauben: Er werde den Versuch unternehmen, „Tschechows Drama von aller Folklore bisheriger Aufführungstraditionen zu befreien“, ließ Smigiel vor der Premiere ankündigen. Damit wolle er die Probleme und Verwerfungen der Figuren im Stück „als die unserer modernen Gegenwart sichtbar werden lassen“.

Das Problem ist nur: Tschechows Text ist ganz und gar nicht verstaubt. Und wenn man alle möglichen Verwerfungen der Gegenwart – wie Mediengesellschaft, Abtreibung und Globalisierung – kurz anzitiert, es aber an einer stringenten Aussage mangeln lässt, ersetzt man die alte nur durch moderne Folklore: Der Kirschgarten, der sogar „im Baedeker“ verzeichnet ist, droht jetzt eben wegen „Insolvenz“ an „Investoren“ zu fallen, die auf dem Grundstück ein Multiplex-Kino und ein Fastfood-Restaurant bauen wollen. Nunja.

Wenn Smigiels Inszenierung dennoch nicht ganz in Beliebigkeit versandet, so ist dies vor allem dem ungeheuer präzisen und glaubwürdigen Spiel von Gabriele Möller-Lukasz als verarmte Gutsbesitzerin Ljubow Ranjewskaja zu verdanken: Mann und Sohn hat sie verloren, der Freund hat sie ausgenommen, alles Geld ist verprasst. Möller-Lukasz gibt die Ljubow derangiert, aber damenhaft, schillernd zwischen herbem Charme, erotischem Flair und stummer Verzweiflung. Der Kirschgarten, der jetzt in andere Hände fallen wird, ist für die Dame von Welt Symbol einer unschuldigen, reinen Kindheit.

Die Bühnenbildnerin Magdalena Musial hat bewusst auf jeden romantisierenden Kirschgartenschnickschnack verzichtet. Einzig die Sonne, die zu den Fenstern in das kahle Wohnzimmer hereinblinzelt, lässt das Kleinod ahnen. Das Mobiliar wird sukzessive gepfändet, am Ende reißen Arbeiter die hölzernen Zimmerwände aus den Verankerungen – die Entwurzelung ist perfekt.

Ersteigert hat den Garten ausgerechnet Lopachin, der Sohn eines früheren Leibeigenen. Und Kay Dietrich gelingt es, hinter der Fassade des aalglatten Geschäftsmanns die melancholischen Selbstzweifel des Aufsteigers erkennen zu lassen. In diesem Spagat entwickelt Dietrich mehr Komik als alles typenhafte Dienerpersonal zusammen.

Herrlich authentisch auch der ewige Student Trofimow: Fritz Fenne macht aus einem verquasten Monolog über Marx, die pränatale Selektion und die internationalen Finanzmärkte die Karikatur eines Agitators der moralinsauren Linken: „Das dialektische ‚Make love, not war‘ hat sich zu einem eindimensionalen ‚Have fun‘ verdichtet“, kräht er lautstark. Das könnte auch das Fazit der Inszenierung sein. Die Zuschauer hatten zwei Stunden ihren Spaß. Das war‘s dann aber auch, vor der Tür wartet das Büffet: Herzlicher, aber enden wollender Beifall des Premierenpublikums.

Markus Jox

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen