piwik no script img

Die zwei Wahrheiten des 1. Mai

Ein 25-Jähriger steht vor Gericht. Er soll in Kreuzberg einem Polizisten einen Pflasterstein an den Kopf geworfen haben, sagen beteiligte Polizisten. Die Beamten sollen den Angeklagten grundlos verprügelt haben, sagen Augenzeugen

David H. soll am 1. Mai dieses Jahres einen Polizisten mit einem Pflasterstein auf den Kopf geschlagen haben. Das ist ein schwer wiegender Vorwurf. Wegen Landfriedensbruch und gefährlicher Körperverletzung muss sich der aus einer Kleinstadt bei Flensburg stammende 25-jährige Sozialhilfeempfänger derzeit vor dem Berliner Landgericht verantworten.

Es gibt in Berlin eine lange Tradition der Lagerbildung und Parteinahme, was die Beurteilung der alljährlichen Ereignisse im Zusammenhang mit der „Revolutionären 1.-Mai-Demonstration“ angeht. Auch im Fall von David H. kursieren daher sehr unterschiedliche Versionen davon, wie die Sache genau verlaufen ist.

Wegen der Geburtstagsfeier seines Bruders sei er am 1. Mai nach Berlin gekommen, sagt H. selbst im Prozess. Von der Demonstration habe er nur nebenbei erfahren. Mit seiner Freundin sei er friedlich durch Kreuzberg gezogen – als Veganer auf der Suche nach einem Lokal, in dem es Sojadrinks gibt. In einer Nebenstraße bekam er mit, wie „ein kräftiger Mann auf eine schmächtige Person einschlug“. Diese habe um Hilfe gerufen. H. dachte, es handele sich um seine plötzlich verloren gegangene Freundin, der Schläger sei vielleicht „ein Neonazi“. Nur darum habe er sich eingemischt, versucht den Prügelnden wegzuschubsen. In der Folge wurde er selber geschlagen, gefesselt und weggeschleppt. Von Zivilpolizisten, wie er nun erkennen musste.

Der 36-jährige Polizist H. hat das Geschehen anders in Erinnerung. Er war am 1. Mai als Leiter einer verdeckt arbeitenden Sondereinsatzgruppe unterwegs. Er habe gesehen, wie Vermummte sich an einem Auto zu schaffen machten. „Offenbar sollte eine Barrikade vergrößert werden“, erzählte der über zwei Meter große Mann dem Richter zum Prozessauftakt. „Weil Steine flogen, duckte ich mich hinter einen Lieferwagen.“ Er habe eine weitere Person gesehen. Der Mann habe zum Werfen ausgeholt. Dann habe ihn ein wuchtiger Schlag am Auge getroffen. „Es war wie eine Explosion im Kopf.“

Gestern bestätigten gleich mehrere Polizisten die Aussage ihres Kollegen. Auch dies war nicht anders zu erwarten gewesen. Es ist bekannt, dass Polizisten einander bei Verfehlungen im Dienst oftmals decken. Der Ton zwischen den Beamten und Davis H.s Verteidigern im Gerichtssaal ist scharf. Schon allein der Kleidung nach sei der Angeklagte damals eindeutig „den Störern zuzuordnen gewesen“, sagt ein Polizist aus. Bei der Festnahme habe sich David gewehrt: „So einen Widerstand habe ich schon lange nicht mehr erlebt“, meint ein anderer.

Mehrere Kreuzberger Anwohner waren gestern auch als Zeugen geladen. Keiner von ihnen hat damals indes einen Anlass für den Zugriff der Polizisten erkennen können. Keinen Steinhagel und kein auf die Straße geschobenes Auto. Stattdessen sollen die Beamten heftig auf den Angeklagten eingeschlagen und ihn dann abgeführt haben. „Im Polizeibus müssen sie ihn weiter geprügelt haben“, glaubt eine Zeugin. „Das ganze Auto hat gewackelt.“ Der Prozess wird morgen fortgesetzt. KIRSTEN KÜPPERS

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen