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„Vielleicht geht es im Osten“

„Warum mögen die Ostdeutschen das ‚System‘ nicht, das ihnen ihre gute Lage doch ermöglicht?“

Interview STEFAN REINECKE

taz: Herr Engler, Ihr neues Buch heißt „Die Ostdeutschen als Avantgarde“ – ist der Titel ironisch gemeint?

Wolfgang Engler: Zum Teil. Zu DDR-Zeiten sollten sie ja Avantgarde sein. 1989 haben sie dieses Heldenkostüm endlich abgeworfen. Der Titel ist aber auch ernst gemeint. Die Krise der Arbeitsgesellschaft zeigt sich im Osten in besonderer, scharfer Weise. In dem Zusammenhang rede ich, ohne Ironie, von Avantgarde. Wenn wir im Osten alle zusammenzählen, die ohne ausreichende Arbeit sind – dann sind etwa die Hälfte der Erwerbsfähigen ohne Arbeit. Das ist seit 1990 so – mal mehr, mal weniger und seit vier, fünf Jahren mit deutlicher Tendenz zum Mehr. Zweitens: Claus Noé, der Exstaatssekretär von Lafontaine, hat mal alle Transferleistungen von West nach Ost in den 90er-Jahren zusammengerechnet – vom EU-Geld über die Solisteuer bis zum Länderfinanzausgleich – und kam etwa auf 1,3 Billionen Mark. Das entspricht in etwa dem Gegenwert des in den 90er-Jahren ziemlich bescheidenen Wachstums von ca. 1,5 Prozent.

Und was folgt daraus?

Dieses geringe Wachstum hat ausgereicht, um fast jedem zweiten Ostdeutschen, der jenseits der Arbeitsgesellschaft lebt, ein erträgliches, humanes Dasein zu ermöglichen. Die Betroffenen mögen das anders empfinden, aber objektiv, von außen gesehen, ist es so. Und das ist der Durchbruch.

Warum Durchbruch?

Weil es zeigt, was möglich ist. Ich sehe in der Arbeit nicht die Erfüllung des Menschen. Die Fixierung auf die Arbeit ist historisch eher neu – sie kann auch wieder verschwinden. In Ostdeutschland in den 90er-Jahren haben die Regierenden und ökonomisch Mächtigen, natürlich ohne es zu wollen, bewiesen, dass der Abschied von der Arbeitsgesellschaft möglich ist. Deshalb spreche ich vom Osten als Avantgarde.

Es ist aber eine Avantgarde, die ihre Rolle als Strafe versteht.

Ja, stimmt. Viele Ältere, die zu Wendezeiten ihre Arbeit verloren, haben das als Tragödie erlebt. Aber warten wir ab, was im nächsten Jahrzehnt passiert.

Was denn?

Vielleicht entwickeln Jüngere ja Pionier- und Experimentiergeist für ein Dasein jenseits der Arbeitwelt. Ich weiß nicht, ob es solche neuen biografischen Muster geben wird. Aber es ist möglich. Dafür muss der arbeitende Teil der Gesellschaft allerdings aufhören, dem arbeitslosen Teil moralische Vorhaltungen zu machen und das Arbeitslosendasein möglichst unerfreulich zu gestalten.

Damit entsteht doch ein neuer Widerspruch: Die Gesellschaft wird nach wie vor durch Arbeit zusammengehalten, soll dies aber nicht mehr zu ihrem zentralen Wert und Selbstverständnis machen.

Ich glaube, der Widerpruch liegt woanders – und das kann man im Osten besser sehen. Dort lebt nicht nur eine starke Minderheit, wie im Westen seit 30 Jahren, jenseits der Arbeitsgesellschaft, sondern fast die Mehrheit. Im Osten ist auch die „Arbeitsgerechtigkeit“ perdu. Eine Gesellschaft, die Arbeit zu ihrem Wert macht, muss auch die Möglichkeit dazu eröffnen.

Warum sollen Arbeitslose in Halle oder Schwerin eher fähig sein, etwas aus ihrem Schicksal zu machen, als in Völklingen oder Hamm?

Ich glaube nicht, dass sie es sind. Der Unterschied liegt nicht in der persönlichen Fähigkeiten, sondern in der sozialen Lage. Die Ostdeutschen wurden gewaltsam aus der Arbeitsgesellschaft vertrieben. Es gibt kein Zurück. Sie müssen Lösungen für Probleme finden, die auch Westdeutschen geläufig sind. Sollte es gelingen, Sinn und Verbindlichkeit in ein Leben ohne oder mit wenig Arbeit zu bringen, könnte das Experiment auch im Westen Schule machen.

Viele hoffen noch immer, dass die Konjunktur wieder anspringt und die Arbeitslosigkeit sinkt.

Gut, wenn es so kommt. Dann waren wir Schwarzseher und hatten Unrecht. Doch dafür spricht leider wenig. Denn die Arbeitslosigkeit gründet nicht in einer Krise der Wirtschaft, sondern in ihrer Produktivität.

Wie bitte?

Man kann mit weniger Menschen mehr herstellen. Deshalb schlage ich einen Wechsel der Perspektive vor: Die Arbeitslosen sind vielleicht die Ersten, die angekommen sind, die in der Tat die Arbeit los geworden sind. Es müssen nicht mehr alle arbeiten, um den Wohlstand zu schaffen, an dem wir uns alle erfreuen. Das ist die Erfüllung einer alten europäischen Idee, von der viele Sozialutopien träumten: dass unsere Bestimmung nicht die Tretmühle ist. Das Problem ist, dass wir, in der Erziehung und von der Politik, nur für ein Leben geeicht sind: für Erwerbsarbeit, Beruf, Karriere. Und wer da herausfällt, steht vor einer schwarze Wand.

Wie könnte eine generelle Umorientierung weg von der Arbeit aussehen?

Die Leute müssen von Kindesbeinen an auf ein Leben vorbereitet werden, das vielleicht von Arbeit bestimmt ist, aber in dem sich Arbeit auch nur episodisch oder gar nicht einstellt. Sie müssen lernen, Zeit geistig, kulturell und sozial zu füllen, Regie in ihrem eigenen Leben führen zu können. Mit Aristoteles gesagt, geht es um Tätigkeit. Tätigkeit, die nicht Arbeit ist, gibt es nur, wo es nicht um das nackte Überleben geht. Vielleicht geht es also hier.

Wenn man sich die rechtsradikalen Jugendszenen in der ostdeutschen Provinz anschaut, findet man wenig aristotelische Tätigkeit.

Das ist richtig. Da schlägt das Gefühl, von der Arbeitsgesellschaft nicht gebraucht zu werden, roh zurück. Das hat auch mit der negativen Selektion in den 90ern zu tun, die eine der unglücklichsten Traditionen des Ostens Deutschlands, nämlich Auswanderungs- und Vertreibungsgesellschaft zu sein, fortgesetzt hat. Es bleiben jene, die am wenigsten Hoffnung haben, die auch am stärksten an der Arbeitsgesellschaft hängen.

„Der Osten als Avantgarde“ hat noch einen anderen Aspekt. Sie argumentieren, dass, gegen ein gängiges Vorurteil, die Arbeitsproduktivität im Osten hoch ist. Der Grund dafür ist, dass in der DDR der Fordismus nie richtig durchgesetzt wurde und den Arbeitern im Osten daher die moderne Teamarbeit leicht fiel. Stimmt das wirklich? Die Arbeitsmoral im Osten war doch, schon wegen des dauernden Materialmangels, viel lässiger: „Freitag ab eins macht jeder seins.“ Ist das kein Widerspruch?

Nein. Es stimmt beides. Das Kollektiv schützte den Einzelnen vor den Zumutungen von außen – ideologischen und auch ökonomisch sinnvollen. Das Kollektiv war eine Barriere zur Verhinderung von Leistung. Trotzdem hat es eine Reihe von Potenzen im Sozialverhalten geschaffen, die nach 1990 zu Relais, zu Anschlussstellen zu den Teams wurden. Die Kollektive waren kleine soziale Systeme, die zwischen den Zumutungen von außen, der Gruppe und dem Einzelnen vermittelten. Das sind, auch in Selbstorganisationsprozessen in effektiven Ökonomien, wichtige Fähigkeiten. Der Produktivitätsvorsprung des Westens wird nun oft als Ergebnis des Kollektivismus im Osten verstanden. Das stimmt aber nicht.

Das müssen Sie erklären.

„Die Fixierung auf die Arbeit ist historisch eher neu –sie kann auch wieder verschwinden.“

Wenn man berücksichtigt, dass die Verwertungsbedingungen im Osten schlechter sind, dass die meisten Großunternehmen abgewickelt wurden und kleine und mittlere Betriebe dominieren, dann schrumpft diese Produktivitätslücke. Und damit auch das Argument „Die DDR-Kollektive waren schuld, weil sie das Individuum entmündigten“. Zudem waren viele Manager aus dem Westen erstaunt, wie flexibel und anpassungsfähig die Belegschaften im Osten waren. Die Kollektive waren also beides: Ermunterung zur Leistungsverweigerung, aber auch Schulen der Selbstorganisation.

Ein Schlüsselbegriff Ihrer Untersuchung ist der „soziale Sinn“ der Ostdeutschen. Was ist das?

Der Begriff ist Pierre Bourdieu entlehnt. Gemeint ist die Gewohnheit, das Wohlbefinden der anderen zur Prämisse des eigenen Wohlbefindens zu machen. Es gibt eine Reihe von fundierten Vergleichsuntersuchungen zwischen Ost und West, deren Ergebnisse Politologen und Demoskopen ratlos gemacht haben. Die meisten Ostdeutschen sind mit ihrer Lage recht zufrieden – also was die Städte, Umwelt, Wohnung, Arbeit etc. angeht. Fragt man die gleichen Leute, ob sie mit dem sozialen, politischen, ökonomischen System zufrieden sind, ergibt sich ein verblüffend anderes Bild: Sie sind damit unzufrieden. Dieses Ergebnis ist auf den ersten Blick aberwitzig: Warum mögen die Ostdeutschen das „System“ nicht, das ihnen, neben ihrer eigenen Anstrengung, ihre gute persönliche Lage doch ermöglicht? Woher diese Schere?

Woher?

Meine These lautet: Es liegt an jenem sozialen Sinn der Ostdeutschen, der in den egalitären Verhältnissen der DDR wuchs. Ein Beispiel ist Manfred Wolke, der Boxtrainer aus Frankfurt (Oder). Er betreibt eine florierende Boxschule und sagt, wie viele andere, dass es ihm persönlich gut geht. Doch getrübt wird dieses Gefühl, wenn er sich Frankfurt (Oder) und die Leute anschaut, die es weniger gut getroffen haben.

Die Ostdeutschen erscheinen in Ihrem Buch in hellem Licht. Sie verfügen über diesen sozialen Sinn, sie sind Krieg gegenüber grundsätzlich skeptisch. Hat die DDR, nach ihrem Untergang, also den neuen Menschen hervorgebracht, den sie zeitlebens vergebens für sich reklamierte.

Nein, das ist nicht gemeint. Wenn es so ankommt, dann wäre mir die Bewertung in die Beschreibung gerutscht. Ich wollte nicht das Bild besserer Menschen zeichnen, sondern kollektive, ostdeutsche Verhaltensmuster skizzieren. Wenn man eine Parallelstudie über die Westdeutschen schriebe, würde man andere kulturelle, gesellschaftliche Muster finden, die sie befähigen, sich in ihrer Welt sinnvoll zu verhalten. Da würde man Verhaltensweisen finden, die Ostdeutschen fehlen.

Der Eindruck resultiert auch aus dem, was Ihrem Buch fehlt: nämlich das Ressentiment der Ostdeutschen gegen Westler.

Das fehlt nicht, es kommt anders zur Sprache. In der DDR herrschte das Gefühl vor, Deutsche zweiter Klasse zu sein. In der Euphorie 1989/90 wurde diese Selbstwahrnehmung kurz unterbrochen – mit der Vereinigung wurde dieses Gefühl revitalisiert und bekräftigt. Jetzt haben die Ostdeutschen eine Doppelwahrnehmung: Sie verstehen sich als Verlierer auf der Siegerseite. Ostmitteleuropäern gegenüber fühlen sie sich wahrscheinlich als Gewinner der Geschichte, Westdeutschen gegenüber als Verlierer. Das ist ja nicht bloß eine Fehlwahrnehmung. Alle Sozialindikatoren, von den Wachstumsraten über die Arbeitslosigkeit bis zum kulturellen Konsum, entsprechen dieser West-Ost-Hierarchie. Jedes Ressentiment braucht und hat reale Gründe, an die es anschließen kann.

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