: Und alles forscht wie geschmiert
Trau, schau, wem! in der Medizin – Widersprüchliche Studienergebnisse verunsichern Patienten und Ärzte
Klingelt’s oder klingelt’s nicht? Das Extrakt des Ginkgobaums zählt zu den Klassikern, wenn es um die Behandlung von Ohrensausen geht. Doch in einer Studie der Universität Birmingham blieb er seinen Wirkungsnachweis schuldig. „Nicht wirkungsvoller als ein Plazebo“, so lautete das vernichtende Urteil der englischen Forscher.
Doch bereits ein Jahr später bescheinigt eine Studie eines Hamburger Forscherteams dem Ginkgoextrakt, als Tinnitusmedikament „effektiv und sicher“ zu sein. Patienten und Ärzte müssen sich also aussuchen, wem sie glauben. Eine ähnliche Zwickmühle droht ihnen auch beim Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom, jener Konzentrationsstörung, die bei Kindern so häufig ist. Die einen Wissenschaftler sehen sie am besten mit dem Medikament Ritalin behandelt, während andere das Mittel als Droge mit unkalkulierbarem Risiko disqualifizieren.
Immer wieder brillieren medizinische Studien durch eklatante Widersprüche. Da werden Atomkraftwerke und Müllverbrennungsanlagen als Katastrophen für die Umwelt eingestuft, um im nächsten Moment den Gefährlichkeitsgrad einer Kaffeemaschine attestiert zu bekommen. Und während Experten der Lipid-Liga für die medikamentöse Senkung des Cholesterinspiegels plädieren, um dem Herzinfarkt vorzubeugen, betrachten Kritiker diese Sichtweise gar als gefährlich, wobei sie sich durch den Skandal um Lipobay bestätigt sehen. Bei Patienten hinterlassen solche Dispute freilich Verunsicherung. Er fragt sich, wem er noch glauben kann – und warum es der Medizin einfach nicht gelingt, eine exakte Wissenschaft zu sein.
Tatsache ist: In kaum einer anderen Wissenschaft gibt es so viele methodische Wege, um zum Ziel – sprich: zu Forschungsergebnissen – zu kommen. Das fängt schon bei der Auswahl und der Zahl der Testpersonen an.
So wurde die englische Ginkgostudie an etwa 1.000 Tinnituspatienten durchgeführt, in Hamburg waren es gerade einmal 60. Außerdem kann man Medikamente im Vergleich zu Plazebos (Scheinmedikamenten) oder im Vergleich zu anderen Arzneimitteln austesten.
Martin Paul, Direktor des Instituts für klinische Pharmakologie und Toxikologie der Berliner FU, betont zudem, dass es ein großer Unterschied ist, ob eine Studie mit „weichen oder harten Endpunkten“ arbeitet. Ob also lediglich eine Aussage zu einem bestimmten Organsystem oder aber zu einem Krankheitsverlauf getroffen wird. Beispiel: Vitamin C. Zahlreiche „weiche“ Daten belegen, dass es einige Aktivitäten unseres Immunsystems anregt. Die „harte“ Datenlage aber, ob das Vitamin tatsächlich, wie immer behauptet wird, die Heilung von Schnupfen und anderen Infekten beschleunigt, ist ausgesprochen dünn.
Viele verschiedene Methoden also, die es sehr schwer machen, die einzelnen Studien miteinander zu vergleichen. Dennoch passiert in der Medizin genau das. Immer wieder werden dort an sich unvergleichbare Arbeiten gegeneinander ausgespielt. Zudem bauschen viele Forscher ihre Ergebnisse auf, treffen allgemeine Aussagen zu einem bestimmten Thema, obwohl ihre Untersuchung eigentlich nur einen Teilbereich abdeckt.
Rückendeckung bekommen sie dabei von den Fachzeitschriften, die zu immer drastischeren Überschriften und Übertreibungen greifen, um sich im zunehmend harten Konkurrenzkampf zu behaupten.
Als der Züricher Wissenschaftler Ingo Potrykus per Genmanipulation ein Reiskorn mit extrem hohen Vitamin-A-Gehalt entwickelt hatte und davon in der Fachzeitschrift Science berichtete, tauften die dortigen Redakteure das neue Produkt schlagkräftig zum „golden rice“ und priesen es als „Wunderwaffe“ gegen den Vitaminmangel in der Dritten Welt.
Außerdem wurden 1.700 Journalisten mit dem Vorabdruck der Forschungsarbeit versorgt, die dann den goldenen Reis zum Wissenschaftshit des Jahres 2000 machten. Seitdem ist die Euphorie freilich verflogen, Potrykus bekommt zunehmend Kritik für sein Projekt zu hören.
Oft kommen die Widersprüche zwischen den Studien auch dadurch zustande, dass einige Studienleiter nicht um Objektivität bemüht sind, sondern im Auftrag von „Sponsoren“ arbeiten und daher im Vornherein bestimmte Ergebnisse im Visier haben. Laut „Transparency International“, dem in München ansässigen Verein zur Bekämpfung der Korruption, sind in Deutschland „mindestens 40 Prozent der klinischen Daten geschönt und gefälscht“. Bei vielen Studien geht es nicht um wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn, sondern produktbezogene Marketingvorteile. Wobei auffällt, dass die Anzahl der Fälschungen umso mehr zunimmt, je wirkungsloser ein Medikament ist.
Wer glaubt, sich auf medizinischen Kongressen informieren zu können, ist erst recht auf dem Holzweg. Der Grund: Während die Texte vor ihrer Veröffentlichung in Fachzeitschriften immerhin von mehr oder weniger unabhängigen Gutachtern gegen gelesen werden, kann sich der Redner auf einem Kongress ungehindert verbreiten. Einige der „Kapazitäten“ machen sich noch nicht einmal mehr die Mühe, ihre Reden selbst zu schreiben. Sie lassen ihre Texte lieber gleich in den Marketingbüros der Pharma-Unternehmen anfertigen. JÖRG ZITTLAU
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen