MASSENDEMONSTRATION IN PARIS: DIE LINKE MELDET SICH ZURÜCK: Déjà-vu für Frankreichs Rechte
Für die rechte Regierung in Paris war gestern der erste schwierige Tag ihrer Amtszeit. Staatspräsident Jacques Chirac dagegen wird sich – fünf Monate nach seiner Wahl mit triumphalem Ergebnis – massiv an die zweite Hälfte des Jahres 1995 erinnert haben, als Demonstrationen und ein wochenlanger Streik das Ende der konservativen Regierung unter Alain Juppé einläuteten.
Die Akteure, die gestern auf die Straßen der französischen Hauptstadt gingen, sind dieselben wie vor sieben Jahren: Gewerkschaften, Verbraucherorganisationen und die linken Parteien mit Ausnahme der sozialdemokratischen PS. Auch ihre Forderungen ähneln sich zum Verwechseln: Verteidigung der öffentlichen Dienste, Ablehnung weiterer Privatisierungen von Staatsunternehmen und weiteren Sozialabbaus sowie einer spekulativen Altersversorgung. Doch das Frankreich des Jahres 2002 ist anders als jenes der 90er-Jahre. Einerseits hat sich das innenpolitische Klima verändert: Ein großer Teil der ehemals öffentlichen Betriebe wurde privatisiert – und zwar von einer rot-rosa-grünen Regierung. Andererseits hat die Misswirtschaft der letzten Monate vorgeführt, wie anfällig Exstaatsunternehmen wie Vivendi oder France Télécom werden, wenn sie den Regeln des Marktes unterworfen sind.
Die Regierung in Paris weiß, dass sie trotz des Wahlergebnisses vom Frühsommer nur einen Teil der Franzosen hinter sich hat. In heiklen sozialen und industriepolitischen Fragen ist sie erst einmal auf Tauchstation gegangen. Sie will die Renten „reformieren“ – aber sie verrät nicht, wie. Sie will einen Teil der staatlichen Elektrizitäts- und Gasversorgung privatisieren – aber sie sagt nicht, welchen. Und sie will das gut gehende Luftfahrtunternehmen Air France weiter privatisieren – und sagt nicht, wann. Angesichts der gestern auf der Straße ausgedrückten massiven Ängste und anstehender weiterer Proteste noch in diesem Monat – dem Oktober, in dem auch 1995 die soziale Bewegung begann – muss Premier Jean-Pierre Raffarin sich bald etwas einfallen lassen. Sonst droht ihm das Schicksal seines Vorgängers Juppé. DOROTHEA HAHN
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