piwik no script img

Die Jungs räumten ab

Schlechtes Jahr für die oberen Zehntausend in Mexiko-Stadt: Claudio Valdés Kuri zeigt bei MEXartes seine schöne, eigenwillige Version des Filmklassikers „El Automóvil Gris“

Als Mexiko-Stadt noch ein beschauliches 300.000-Einwohner-Städtchen war

1915 war ein schlechtes Jahr. Jedenfalls für die oberen Zehntausend in Mexiko-Stadt. Seit fünf Jahren herrschte bereits eine recht unübersichtliche Revolution, die allein gereicht hätte, das Leben in den hübschen Kolonialbauten der Hauptstadt ungemütlich zu machen. Aber damit nicht genug. Es formierte sich auch eine sehr fiese Bande von Ganoven, die in Häuser eindrang, alle Wertsachen einsammelte, durch den Hintereingang verschwand und dort in ein graues Auto sprang. Welches, der damaligen Verkehrssituation entsprechend, auf der Flucht freie Fahrt hatte. Die Jungs räumten ab.

„El Automóvil Gris“ heißt der 1919 von Enrique Rosas gedrehte Stummfilm, der in einer Mischung aus Dokumentation und Fiktion von der Bande und ihrer Überführung erzählt. Der sechsstündige Streifen, der Mexikos Eintritt in die Filmgeschichte markiert, hat selbst eine abenteuerliche Geschichte: Rosas Ehrgeiz war es, authentisch von dem ersten Profi-Banditenring Mexikos zu erzählen, weshalb er nicht nur an den Originalschausplätzen, sondern auch mit vielen Betroffenen drehte. Die betuchten Damen, die auf der Leinwand die Arme vor Schreck in die Luft reißen, tun dies für den Film zum zweiten Mal. Auch der Polizeiinspektor, der die Bande gefasst hat, spielt sich stolz selbst. Ebenso General Pablo Gonzáles, damals Anwärter auf die Präsidentschaft, der den Film auch produziert hat – wobei vermutet wird, dass er sich damit vor allem vom Vorwurf reinwaschen wollte, selbst Kopf der Bande gewesen zu sein.

Bei den weniger prominenten Figuren ist es heute schwer zu entscheiden, wer Laie und wer Schauspieler ist. Einwandfrei geklärt ist das nur bei den Banditen, wie die Schlussszene belegt: Es ist eine Dokumentaraufnahme ihrer Hinrichtung. Rosas hatte das Ereignis 1915 selbst gefilmt und später seinen Film anachronistisch – mit Schauspielern als Banditen – gedreht.

Die Originalversion des Klassikers existiert heute nicht mehr, wohl aber geschnittene Versionen und diverse Neuverfilmungen. Eine schöne, eigenwillige Interpretation kommt nun von Claudio Valdés Kuri zum MEXartes-Festival nach Berlin. Kuri zeigt eine knapp zweistündige Fassung des Films auf einer kleinen Leinwand, vor der zwei Schauspielerinnen in japanischer Benshi-Tradition die Dialoge live einsprechen. Wobei es „die Dialoge“ bei einem Stummfilm naturgemäß nicht gibt; Kuri und die Schauspielerinnen haben sie nach intensiven Quellenstudien von Zeitungsberichten bis zu populärem Liedgut selbst verfasst.

Diese neue „Tonspur“ zeigt deutlich, dass Kuri weniger an der Geschichte als an Erzählstrukturen interessiert ist. Der gesamte erste Teil ist auf japanisch – dem Publikum bleibt nichts, als sich in den Singsang der Benshi fallen zu lassen, und Irene Aikiko Iida beim Imitieren von einem Dutzend Stimmen zu bewundern. Langsam findet spanisches Vokabular Eingang, erst mit japanischem Akzent und Satzbau – der sich auch in einer inkorrekten deutschen Untertitelung spiegelt –, dann immer perfekter und elaborierter werdend. Doch wie die Pianobegleitung langsam in Jazz übergeht, werden auch die Dialoge im dritten Teil freier und gewinnen zunehmend an absurder Komik. „Sake mit Salz!?“, lässt etwa Aikiko Iida eine Figur angeekelt ausrufen, um von Sofía González de León auf den Boden der mexikanischen Tatsachen geholt zu werden: „Das ist Tequila“.

Wer nicht sehr gut Spanisch versteht, wird eine Menge Feinheiten der Aufführung leider verpassen. Die Aufnahmen von Mexiko-Stadt, als es noch ein beschauliches 300.000-Einwohner-Städtchen war, entschädigen jedoch für vieles. CHRISTIANE KÜHL

Bis 6. 10., 20 Uhr, Haus der Kulturen der Welt, John-Foster-Dulles-Allee 10

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen